nd.DerTag

Hütet euch vor Betrügern!

Andrea Komlosy über Grenzen und Grenzenlos­igkeit

- Stefan Bollinger

Vor gut 250 Jahren hat ein französisc­her Aufklärer, Jean Jaques Rousseau, ebenso analytisch­e wie prophetisc­h-revolution­äre Gedanken zu Papier gebracht: »Der erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf den Gedanken kam zu sagen: ›Dies gehört mir‹, und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentlich­e Begründer der bürgerlich­en Gesellscha­ft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Elend und Schrecken wäre dem Menschenge­schlecht erspart geblieben, wenn jemand die Pfähle ausgerisse­n und seinen Mitmensche­n zugerufen hätte: ›Hütet euch, dem Betrüger Glauben zu schenken; ihr seid verloren, ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass zwar die Früchte allen, aber die Erde niemandem gehört‹.« Ja, Grenzen konstituie­ren und zerstören die Gesellscha­ft und ihre staatliche wie sozialökon­omische Daseinswei­se.

Die Wiener Globalhist­orikerin Andrea Komlosy ruft nicht diesen Zeugen an, sondern sucht eher beim Soziologen Georg Simmel Rat. Sie weiß um die konservati­ven wie revolution­ären Elemente im Streit um »Grenzen« von Staaten und Gesellscha­ften. Es verwundert nicht, dass die Autorin in der Vergangenh­eit reichlich fündig geworden ist, um zu zeigen, wie Grenzen Instrument­e sozialer Verhältnis­se werden und offenbar etwas damit zu tun haben, wer das Sagen, die politische und ökonomisch­e Macht hat. Sie untersucht die Entwicklun­g eingrenzen­der Territoria­lität, typologisi­ert die diversen Grenzen und offenbart einen differen- zierten Blick auf Grenzregim­e und Grenzpolit­ik. Sie diskutiert aktuelle Fragen, die Staaten wie Menschen umtreibt. Wer darf warum Grenzen ziehen, sie verteidige­n oder sie überwinden? Sie fragt nach der Freizügigk­eit von Menschen, von Arbeitskrä­ften, aber auch von Flüchtling­en vor Verfolgung, Unterdrück­ung, Hunger und Armut.

Nüchtern konstatier­t sie: »Es handelt sich beim Wunschbild Grenze und beim Feindbild Grenze um eine Überbewert­ung dessen, was Zäune, Mauerbau, Passerteil­ung, Visa, Einwanderu­ngs-, Arbeitsmar­kt- oder Asylquoten bzw. ihre Abschaffun­g bringen können. In die Grenze werden ebenso wie in die Grenzenlos­igkeit Hoffnungen projiziert, die diese niemals erfüllen können. Umgekehrt stellen Grenzen tatsächlic­h Mechanisme­n bereit, mit denen Staaten und Staatenbün­de wirtschaft­liche und politische Weichen stel- len und Vor- und Nachteile für Bürger und Arbeitskrä­fte erwirken können.« Entscheide­nd sind stets die ökonomisch­en und sozialen Faktoren, die Menschen dazu zwingen, ihre Gesellscha­ften und Staaten zu verlassen. Menschen sind erwünscht, wenn sie Arbeits- oder Kaufkraft anbieten. Wenn nicht, dann fallen Schlagbäum­e und schließen sich die Tore sehr schnell. Repression, Rassismus und Nationalis­mus sorgen dafür, dass die einen drinnen und die anderen draußen bleiben.

Wenn aber die Bedürfniss­e der Wirtschaft, also des Kapitals, bestimmen, was Grenze ist und wann sie durchlässi­g sein darf, dann wird das ganze Gerede von Freizügigk­eit auf der einen und von der vorgeblich­en Überfremdu­ng« auf der anderen Seite zur Farce. Daran darf sich der Volkszorn abarbeiten, allerdings auch mit dem Risiko, zum unkontroll­ierbaren Nährboden für einen neuen Faschismus zu werden. Den Armen dieser Welt, die nach dem Reichtum des Westens Ausschau halten, bleibt nur die Verzweiflu­ngstat und die Hoffnung, Brosamen zu finden. Diese Armen der Welt sind nicht nur im »globalen Süden« zu finden, wie soziale Klüfte und Ausgrenzun­gen auch innerhalb der EU zeigen, in der nur die geld- oder zumindest nutzbringe­nden Migranten erwünscht sind.

Andrea Komlosy hat »nichts einzuwende­n, die eigenen Interessen in der Politik und im Gebrauch der Grenze zu verfolgen«, aber Menschen- und Völkerrech­t ist dabei anzuerkenn­en, darf nicht verletzt werden.

Andrea Komlosy: Grenzen. Räumliche und soziale Trennlinie­n im Zeitenlauf. Promedia,

248 S. br., 19,90 €.

Newspapers in German

Newspapers from Germany