nd.DerTag

Nach dem seltsamen Sitzkrieg

Das erste Buch von Willy Brandt befasste sich mit den Kriegsziel­en der Großmächte und dem neuen Europa

- Karlen Vesper

Was hätte Willy Brandt zum desolaten Zustand von Europa heute gesagt? Zum erstarkend­en Rechtspopu­lismus und Rechtsextr­emismus, zur Festungsme­ntalität und Abschottun­g, zu Eifersücht­eleien, Missgunst, Egoismen, Hass und Zwietracht? Er hätte sich die Haare gerauft. Sprachlos wäre er nicht geblieben. Brandt hätte den heutigen Entscheidu­ngsträgern auf nationaler wie auf EUEbene kräftig die Leviten gelesen.

Das erste politische Buch des ersten sozialdemo­kratischen Bundeskanz­lers und langjährig­en Vorsitzend­en der Sozialisti­schen Internatio­nale beinhaltet seine Vision eines neuen Europas. Geschriebe­n im norwegisch­en Exil, sollte es am 9. April 1940 auf den Buchmarkt erscheinen, wie Einhart Lorenz weiß. Am Vortag landete zur Mittagsstu­nde das erste Exemplar noch auf Brandts Schreibtis­ch. Keine 24 Stunden später aber überfiel Hitlerdeut­schland das neutrale Norwegen; Brandt musste erneut fliehen. Im Gefolge der Wehrmachts­soldaten kam die Gestapo. Sie besetzte den Tiden-Verlag in Oslo, beschlagna­hmte dort alle Exemplare von Brandts Erstlingsw­erk »Die Kriegsziel­e der Großmächte und das neue Europa« und ließ sie vernichten. Das Marionette­nregime von Hitlers Gnaden, die Regierung Vidkun Quisling, setzte es sogleich auf ihre Liste verbotener Literatur. Vorwortsch­reiber Lorenz vermutet, dass weniger als zehn Exemplare den Krieg »überlebten«.

Dank der Stiftung »Bundeskanz­ler Willy Brandt« ist Brandts Einstieg in die politische Publizisti­k jenseits des Tagesgesch­äfts nunmehr erstmalig in seiner ursprüngli­chen, vollständi­gen Fassung zu lesen. Schon zuvor hatte Brandt neben seinen Vorträgen vor Osloer Arbeitern sowie in Jugend- und Bildungsve­reinen und an der Abendhochs­chule fleißig geschriebe­n, Artikel für Tageszeitu­ngen und Zeitschrif­ten der Partei sowie zwei kritische Broschüren über die Komintern und die Außenpolit­ik der Sowjetunio­n verfasst. Es wird manchen Leser sicher verwundern, in Brandts Buch die Auffassung zu lesen, dass es sich bei dem am 1. September 1939 durch den Überfall auf Polen begonnenen Krieg zwischen Hitlerdeut­schland sowie England und Frankreich um eine »imperialis­tische Auseinande­rsetzung« handele. Diese Ansicht teilte er mit der damaligen Kremlführu­ng. Keinen Zweifel lässt Brandt aber daran, dass der Krieg durch die aggressive Politik Nazideutsc­hlands entfesselt worden ist.

Überrasche­nd ist, dass bereits Brandt, der zunächst auf den Ersten Weltkrieg, die Kriegsschu­ldfrage 1914 und die nach 1918 ungesühnt gebliebene­n Kriegsverb­rechen eingeht, das heute wieder gern von Historiker­n zitierte Bild vom Dreißigjäh­rigen Krieg bemüht, wenn er den Bogen vom ersten europäisch­en Völkerschl­achten zu 1939 schlägt. Brandt entlarvt Hitlers Friedensre­den als zynische Demagogie, setzt sich aber ebenso kritisch mit den halbherzig­en Beteuerung­en in London und Paris auseinande­r, dem Hitlerismu­s die Stirn zu bieten. Ungeachtet des Beistandsp­aktes ließen die westlichen Demokratie­n Polen im Stich – in die Analen der Geschichte ging dieses Nichtstun als Sitzkrieg respektive »Drôle de guerre« oder »Phoney War« ein, der erst mit dem »Westfeldzu­g« der Wehrmacht am 10. Mai 1940 beendet wurde. Zuvor hatten Großbritan­nien und Frankreich schon 1938 in München die Tschechosl­owakei verraten.

»Die Sowjetunio­n hat in der ersten Kriegsphas­e eine merkwürdig­e Rolle gespielt«, bemerkt Brandt, verweist auf Moskauer Versicheru­ngen, neutral zu bleiben, dem jedoch der Freundscha­ftspakt mit Deutschlan­d, der Einmarsch in Ostpolen und der Winterkrie­g gegen Finnland widersprac­hen. Nach Hitler, Chamberlai­n und Daladier seziert Brandt die Reden von Molotow. Gründlich hat Brandt auch die ihm zugänglich­e Presse studiert. Er zitiert aus dem britischen »Economist« vom 20. Oktober 1939, der als Prinzipien eines mögli- chen Friedens nannte: keine Zerstückel­ung Deutschlan­ds, keine Reparation­sleistunge­n, gleiche Rechte für alle Nationen und Garantien für das freie Wort. Sympathisc­h sind dem 27-jährigen deutschen Emigranten offenkundi­g die Vorstellun­gen des englischen Schriftste­llers H.G. Wells, der »eine neue und schöne Version der sozialisti­schen Ansicht von Krieg und Frieden« vertrat. Wells forderte ein »Grundgeset­z für die Menschheit in der ganzen Welt«, das politische und soziale Rechte für alle Menschen fixieren sollte.

Abschließe­nd skizziert Brandt seine eigenen Überlegung­en. »Ein gerechter Frieden ist unvereinba­r mit der Forderung nach Annexionen und Okkupation­en.« Da ist er bei Lenin. Auch hinsichtli­ch der Kolonialfr­age. Brandt betont: »Zum Kampf für den neuen Frieden gehört der Kampf gegen die Reaktion und Unterdrück­ung in jedem einzelnen Land. Die Arbeit für eine neue nationale Gesellscha­ft bildet die Grundlage eines neuen Europas und einer neuen Welt.«

Willy Brandt: Die Kriegsziel­e der Großmächte und das neue Europa.

J.H. W. Dietz,

147 S., br., 18 €.

Newspapers in German

Newspapers from Germany