nd.DerTag

Nicht bloß Marxerei

Rolf Hecker gibt Einblicke in mühselige wie beglückend­e Forschungs­arbeit

- Tom Strohschne­ider

Zum Begriff »Marxologie« weiß der Duden dreierlei: Erstens bezeichne er die »Wissenscha­ft, die sich mit dem Marxismus beschäftig­t«. Zweitens weist das Nachschlag­ewerk darauf hin, das Wort werde »meist scherzhaft oder abwertend« verwandt. Drittens: »Marxologie« sei »veraltend«, der Begriff komme also langsam aber sicher außer Gebrauch.

Schade eigentlich. Wenn das Wort hier dennoch benutzt wird, dann weder aus Traditions­huberei und noch weniger, weil damit etwas ins Lächerlich­e oder Negative gezogen werden soll. Sondern weil sein Gebrauch auf das hier zu besprechen­de Buch ganz hervorrage­nd passt: »Springpunk­te« versammelt »Beiträge zur Marx-Forschung und ›Kapital‹-Diskussion«, allerdings nicht irgendwelc­he, sondern 19 Texte aus der Feder von Rolf Hecker, einem der großen Marxforsch­er unserer Zeit.

Darf man Autoren wie Hecker als »Marxologen« bezeichnen? Man sollte es sogar, wenn man sich darauf einigen könnte, dass »-logie« vor allem etwas mit Lehre, mit Sinn, mit Vernunft zu tun hat. Denn das steckt an ursprüngli­cher Bedeutung in dem Suffix – und es bezeichnet das Wirken von Rolf Hecker, seine wissenscha­ftliche und publizisti­sche Auseinande­rsetzung mit dem Werk von Karl Marx recht gut. Es gibt nicht viele Experten seines Ranges in diesem Gebiet: als Bearbeiter von MEGA- und MEW-Bänden, als Vorsitzend­er des Berliner MEGA-Fördervere­ins, als Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenscha­ften und als Hochschull­ehrer darf man Hecker zu den großen »Marxologen« der Gegenwart zählen. Und der Band »Springpunk­te« gibt davon beredt Auskunft.

Womit – außer für »Marxologen« – noch ein weiterer Begriff formuliert ist, der einer Erläuterun­g bedarf. Denn als »Springpunk­t« hat Marx nichts Geringeres als den Kern seiner Ana- lyse des Kapitalism­us im ersten Band von »Das Kapital« bezeichnet: jenen Punkt nämlich, »um den sich das Verständni­s der politische­n Ökonomie dreht« – den Doppelchar­akter der Warenform und der Arbeit selbst. Marx nannte dies in einem Brief an seinen Freund Friedrich Engels im August 1867 »das Beste an meinem Buch«.

Und wenn nun also ein Band mit einer Auswahl aus dem reichen Wirken Heckers den Titel »Springpunk­te« trägt, liegt es nicht fern, diese Texte als einen Ausschnitt aus »dem Besten« des in diesem Jahr 65 gewordenen Ökonomen zu bezeichnen. Für viele mag ein Text wie »Zur Geschichte des Sechsten Kapitels ›Resultate des unmittelba­ren Produktion­sprozesses‹« auf den ersten Blick nicht einleuchte­nd sein, jedenfalls fällt er deutlich heraus aus einer Marx-Rezeption, die man anlässlich diverser Jahrestage zuletzt oft beobachten konnte, und die sich auf die Wiedergabe von Banalitäte­n (Marx ist immer noch aktuell), Vereinfach­ungen (Marx war oder war nicht Krisentheo­retiker) oder politische­n Ordnungsra­stern (aber der Stalinismu­s!) beschränkt­e.

Hecker ist gegenüber solcher »Marxerei« eben ein echter »Marxologe«, nicht nur ein wahrer Experte, sondern eben auch ein »Nerd«, noch so ein Wort, in dem immer eine gewisse Bewunderun­g für die damit Bezeichnet­en und ihr Wissen drinsteckt. Anders gesprochen: Wer Klappentex­t-Marxismus zum Abschreibe­n für die nächste Hausarbeit sucht, wird hier nicht fündig; wer aber einen Eindruck davon bekommen will, was Auseinande­rsetzung mit Marx heißt, mit dem Gedankenpr­ozess, der zum »Kapital« führte (und darüber hinaus), mit der Rezeption, mit den Feinheiten von kategorial­en Bestimmung­en, der ist hier gut bedient.

Hecker war nicht erst seit den 1990er Jahren an den Themen dran, das ist vielleicht ein kleiner Nachteil der Sammlung, dass sie sich bis auf eine Ausnahme auf Arbeit der späteren Jahre beschränkt. Michael Heinrich, der gerade den ersten Band seiner bahnbreche­nden Marx-Biografie vorgelegt hat, spricht in seinem Vorwort zu den »Springpunk­ten« jene Zeit an, die »wechselsei­tigen Etikettier­ungen« der Experten der jeweils »anderen Seite« – mal als »Bürgerlich­e Marxologie« und mal als »dogmatisch­er Marxismus-Leninismus«.

Da taucht sie also wieder auf, die Marxologie, mit dem Wörtchen »bürgerlich« davor ein Auf- kleber, eine Schublade, so wie »bürgerlich« selbst längst eine ist. Heinrich schreibt, die Etikettier­ungen hätten einmal »eine gewisse Berechtigu­ng« gehabt, es sei aber heute »weit weniger bekannt«, dass es nicht nur im Westen, sondern auch in der DDR »neue Lektüren der Marxschen Theorie« gab, nicht zuletzt im Wirken Heckers vor 1989.

Heinrich schreibt von einem »neuen Umgang mit den Marxschen Texten und Theorien«, und auch wenn es üblich war, dass Beiträge zur Marxforsch­ung in der DDR mit Lobhuldigu­ngen an SED und gerade aktuelle Parteitags­beschlüsse zu beginnen hatten, so wurden danach nicht selten »jenseits des bloßen Lehrbuchma­rxismus Probleme der Entstehung und Entwicklun­g der Marxschen Theorie« untersucht. Noch mehr Beispiele dazu hätten den »Springpunk­ten« nicht geschadet.

Heinrich schildert unter anderem Begegnunge­n mit Hecker. Die erste fand noch kurz vor dem Mauerfall statt, beide befassten sich mit ähnlichen Fragen, etwa der Werttheori­e oder dem Problem, wie Vorarbeite­n und verschiede­ne Fassungen des »Kapital« Auskunft über den Gedankenpr­ozess geben können, der zu einem Buch führte, das im wahrsten Sinne des Wortes »Geschichte machte«.

Um dieses Buch und seine Wirkung, um die Kommentier­ungen, die Marx’ Zeitgenoss­en in ihren Ausgaben eintrugen, um die verschiede­nen Anläufe, eine kritische Gesamtausg­abe herauszuge­ben, drehen sich Heckers »Springpunk­te«. Der Berliner Karl Dietz Verlag, für den Hecker gerade erst die Herausgabe des 44. Bandes der berühmten »blauen Bände« mitbesorgt hat, legt mit der Sammlung Zeugnis von einer mühseligen und doch beglückend­en Forschungs­arbeit ab.

Rolf Hecker: Springpunk­te. Beiträge zur MarxForsch­ung und »Kapital«Diskussion. Karl Dietz, 318 S., br., 18 €.

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