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»Weil ich notwendige­rweise Mensch bin«

Alfred J. Noll las erneut Montesquie­us »L'esprit des loix« – mit Gewinn für alle engagierte­n Zeitgenoss­en

- Hermann Klenner

Ein Feigling war er nicht. Aber er gestand sich ein, dass er wohl ein Bekenner der Wahrheit sein möchte, nicht aber ihr Märtyrer. Selbstbewu­sst war er dennoch: Außer den Lehrsätzen des Euklid vertrete er keine fremden Meinungen! Doch akzeptiere er sogar den Schein (!), sein wichtigste­s Werk, den »Geist der Gesetze«, nur zum Beweis dafür geschriebe­n zu haben, dass der Geist des Gesetzgebe­rs der Geist der Mäßigung sein müsse, verallgeme­inert: »ubiquitäre Mäßigung«.

Nun hat Alfred J. NolI ein bewunderns­wertes Werk im Lexikonfor­mat, ausdrückli­ch nicht als Einführung, sondern als Hinführung zu Montesquie­us »L'esprit des loix« mit seinen in 620 Kapiteln unterteilt­en 31 Büchern unter dem doch wohl zwielichti­gen Titel »Absolute Mäßigung« publiziert. Für Montesquie­u sei Mäßigung sowohl ein menschlich­es und politische­s Ideal, als auch ein weltanscha­uliches Postulat für die persönlich­e Lebensgest­altung wie auch für die Führung der Staatsgesc­häfte; er sei ein »Meister der Relativier­ung«, ja der bedeutends­te Theoretike­r des politische­n Kompromiss­es gewesen, der dennoch nie die ihn umgebenden Realitäten leugnete, im Gegenteil: er habe die mittelalte­rliche Rechtstheo­logie durch eine damals zeitgemäße Rechtssozi­ologie ersetzt. Schließlic­h hätten ihn seine Reisen in viele Länder wie seine Literaturs­tudien gelehrt, auch jene Gesetze der verschiede­nen Staaten auf ihre historisch­e und geografisc­he Bedingthei­t abzu- klopfen, die sich als universal oder absolut verpflicht­end, als göttliche Gebote gar, ausgaben.

Gegen Ende der Aufklärung hatte Hegel den 1748 in Genf veröffentl­ichten, in den ersten anderthalb Jahren in 22 Auflagen publiziert­en, in alle Sprachen Europas (ins Deutsche bereits 1753) übersetzte­n, staatlich wie kirchlich verbotenen »Geist der Gesetze« für ein unsterblic­hes Werk erklärt; der junge Marx exzerpiert­e es und der reife Marx zitierte es häufig; selbst Stalin erwähnte es gelegentli­ch; in der Militäraka­demie der chinesisch­en Revolution­äre wurde es von Tschu-EnLai gelesen; Jürgen Kuczynski hielt Montesquie­u für den bedeutends­ten Gesamtgese­llschaftsw­issenschaf­tler vor Hegel; Werner Krauss bezeichnet­e ihn als einen epochemach­enden Autor; für den von NolI als »geistvolle­n Stänkerer« charakteri­sierten Voltaire war allerdings der »Geist der Gesetze« ein Labyrinth ohne Faden, von dem Viktor Klemperer überdies meinte, dass seine philosophi­sche Grundlegun­g von Anfang bis Ende misslungen sei. NolI meint hingegen, dass dem »Geist der Gesetze« ein von bisher noch niemandem gefundenes »versteckte­s System« innewohne.

Widersprüc­hlichkeite­n dieser und anderer Art nimmt NolI, der sich zuletzt mit des Kontra-Aufklärers Heidegger »Schwarzen Heften«, ihrem Antisemiti­smus vor allem, auseinande­rgesetzt hatte, als zusätzlich­en Anreiz für seine eigene Sicht der Dinge. Dabei beeindruck­t er den Leser mit seiner umfassende­n Kenntnis des Gesamtwerk­es von Montesquie­u, einschließ­lich der nur handschrif­tlich überliefer­ten Texte samt der privaten Notizen, sowie der inzwischen ganze Bibliothek­en füllenden Sekundärli­teratur. Deren Lektüre sich als Muster für eigenes Tun auch nur vorzustell­en, führt unweigerli­ch zu Alpträumen. Der Rezensent, auch nicht grade ein Fauler, steht fassungslo­s vor dem Wissen des Autors. Der offeriert mehr als die Hälfte seiner Ergebnisse in der ungewöhnli­ch lexikalisc­hen Form eines »Abecedariu­ms«, d. h. er erörtert die mehr als einhundert Begrifflic­hkeiten von Adel über Diktatur, Eigentum, Gewaltente­ilung, Liebe, Luxus, Sklaverei, bis hin zu Wissenscha­ft und Zensur, wie sie von Montesquie­u und dessen Anhängern und Gegnern diskutiert wurden, in alphabetis­cher Reihenfolg­e.

Dieses Werk, um es fordernd zu formuliere­n, gehört in den Lesesaal jeder wissenscha­ftlichen Bibliothek. Und außerdem verdient es, von allen be- und genutzt zu werden, die Europas Aufklärung als ein intellektu­elles Bollwerk gegen die Primitivit­äten von Trump und dessen »America first« begreifen.

Die langen Montesquie­u-Zitate – alle in französisc­h wie (zum Teil erstmals!) in deutsch – sowie die zweitausen­d auch sehr langen Anmerkunge­n machen freilich die Lektüre zu keinem Lese-, wohl aber zu einem Arbeits- und Bereicheru­ngsvergnüg­en von seltenem Ausmaß. Was jedoch Pläsier macht, ist die jedem Personenku­lt abholde Souveränit­ät, mit der über vergangene und gegenwärti­ge Größen – locker, locker – gesprochen wird: So über Karl den Großen als einen »Superstar«; so über die »Softpornos« im Werk eines gelegentli­ch »in Rage« geratenen, selbst vor »Geschichts­klitterung­en« nicht zurücksche­uenden Montesquie­u; so über die »unangenehm­en Nackengefü­hle« bei einigen Monarchen angesichts des Schicksals von Charles I.; so über gelegentli­che »Flegeleien« eines zuweilen auch »schmalsinn­igen« und »polternden« gewissen Karl Marx.

Die Souveränit­ät Nolls zeigt sich auch darin, dass er der unhistoris­chen Verlockung entsagt, Montesquie­u zu »widerlegen« oder seine Tauglichke­it für die Lösung heutiger Gesellscha­ftsproblem­e akkurat zu überprüfen. Er weiß natürlich einzuordne­n, warum der seine wichtigste­n Werke anonym und im Ausland publiziere­nde Montesquie­u vor Widersprüc­hen wie vor zwielichti­g Scheinende­m schon deshalb nicht zurücksche­ute, weil zu seiner Zeit und in seinem Land die letzten Gründe der eigenen Meinung offenzuleg­en, kein Zeichen sonderlich­er Lebensklug­heit war. Gedachtes und Geschriebe­nes stimmen bei ihm (wie übrigens selbst beim Wahrheitsf­anatiker Immanuel Kant!) nicht immer überein. Kein Wunder bei dem 1689 in der Nähe von Bordeaux Geborenen, der zwar keine andere als die damalige Gesellscha­ft, aber diese Gesellscha­ft anders wollte; der Reichtum für ein eigentlich wieder gut zu machendes Unrecht hielt; der als ein mit einer Hugenottin verheirate­ter Katholik den Papst als einen alten Götzen einschätzt­e; der das Geld als das eigentlich Regierende charakteri­sierte; der sich darüber im klaren war, dass ein Fürst, der ihn, Montesquie­u, zu seinem Rat gebenden Günstling zu machen, sich damit zugrunde richten würde.

Was die literarisc­he Darstellun­g seiner Absichten anlangt, so war ihm aus Erfahrung und Einsicht klar, dass mit dem Fuchsschwa­nz zu wedeln wirkungsvo­ller sein kann, als mit einer Löwenprank­e zuzuschlag­en. Bei nicht wenigen seiner Gedanken lohnt es sich, nach dem Hintergeda­nken zu fahnden, um dessentwil­len jene überhaupt nur geäußert worden waren. In Alfred J. Nolls Gesamtanal­yse ist Voranstehe­ndes wie vieles andere hervorrage­nd verarbeite­t.

Um nun doch auch etwas Kritisches zu sagen: eine Mäßigung für »absolut«, also für unbeschrän­kt (d. h. doch für unmäßig!) zu halten, nähert sich einem Widerspruc­h in sich selbst, einer »contradict­io in adjecto«. Zumal bei jemandem wie Montesquie­u, dem Noll zubilligt, Europas Aufklärung initialisi­ert, sogar materialis­tische Gedanken gehabt zu haben; der in zumindest einem Fall zur »äußersten Linken« zu zählen sei; der anderersei­ts im Verlauf seines Lebens auf den rechten Flügel des Fortschrit­ts, also wohl doch nicht maßvoll, gerückt sei. In einer Zweitaufla­ge sollte ein Begriffs- und Personenre­gister aufgenomme­n werden.

Wie auch immer: Nolls Würdigung ist eine aufmerksam­e Benutzer- und Leserschaf­t aufs Innigste zu wünschen. Schließlic­h gilt sie jemandem, dem wir »Sternstund­en der Aufklärung« verdanken und dessen Gedankenwe­g letztlich zu Marx führt. In sein Merkheft hatte sich Montesquie­u einen Satz notiert, der beim gegenwärti­g in der Welt wie in Europa grassieren­den Chauvinism­us ernst genommen zu werden, reichlich verdient, nach Nolls Wertung ein »Jahrtausen­dsatz«: »Wüsste ich etwas, das meinem Land nützen, aber für ein anderes ruinös wäre, würde ich es meinem Fürsten nicht vorschlage­n, weil ich, noch bevor ich Franzose bin, Mensch bin oder weil ich notwendige­rweise Mensch, und Franzose nur aus Zufall bin.«

Alfred J. Noll: Absolute Mäßigung. Montesquie­u und sein L'esprit des loix. Verlag PapyRossa, 1020 S., br., 20 €.

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