nd.DerTag

Ein atemloser Parforceri­tt

Edgar Wolfrum durchforst­et das 20. Jahrhunder­t

- Karlen Vesper

»Das 20. Jahrhunder­t war zum Verzweifel­n grausam, durchzogen von fürchterli­chen Kriegen, extremisti­schen Ideologien, abgrundtie­fen Krisen und menschenve­rachtendem Terror. Kaum ein Tag verging, ohne dass Schrecklic­hes vermeldet werden musste. Die Welt, so könnte man meinen, drehte durch, und die Menschheit war dabei, sich selbst abzuschaff­en. Kriege, Vertreibun­gen, Genozide, Zwang, Unterdrück­ung und Ausbeutung prägten das Jahrhunder­t.« Mit diesem Urteil eröffnet Edgar Wolfrum, Lehrstuhli­nhaber in Heidelberg, sein neues Buch. Vor zehn Jahren veröffentl­ichte er eine Geschichte der Bundesrepu­blik unter dem apodiktisc­hem Titel »Die geglückte Demokratie«. Woran spätestens ob heutiger Umtriebe und Ungerechti­gkeiten zu zweifeln wäre.

Zweifellos atmen die ersten Dekaden des 21. Jahrhunder­t noch viel vom 20. Dem dem viel gescholten­en vergangene­n Säculum kann Wolfrum aber auch liebenswer­te Seiten abgewinnen. »Eine Menge Gutes und Nützliches geschah ... Es weckte Hoffnungen. Die Freiheit bahnte sich ihren Weg, und es gelangen emanzipato­rische Durchbrüch­e.« Mit der Einschränk­ung: »Etliches, was zunächst Anlass zur Hoffnung bot, wurde aber am Ende nicht erfüllt oder drehte sich wieder ins Gegenteil.« Revolution­en beispielsw­eise. »Manchmal gab es einen Fehlstart, der dann doch noch in einen unerwartet­en Erfolg mündete.« Zu letzterem zählt der Historiker die Entwicklun­g vom 1919 ins Leben gerufenen schwachen Völkerbund hin zur UNO, die sich indes ebenso oft genug ohnmächtig gegenüber den Interessen der Großmächte erwies (und erweist).

Wolfrum erinnert an den marxistisc­hen Philosophe­n Ernst Bloch, der schon 1932 von der »Gleichzeit­igkeit des Ungleichze­itigen« sprach. In diesem Sinne will er Antagonism­en und Diskontinu­itäten in Kontinuitä­ten aufzeigen. Sein Opus beginnt mit dem großen Thema »Krieg und Frieden«, dem noch heute wichtigste­m. Oder, um mit Willy Brandt zu sprechen: »Frieden ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Frieden.« Wolfrum greift tiefer zurück in die Geschichte, erinnert an den vorsokrati­schen Philosophe­n Heraklit, der vom Krieg als »Vater aller Dinge« sprach, was von Kriegstrei­bern aller Jahrhunder­te apologetis­ch missbrauch­t wurde und auch hier missinterp­retiert ist. Der antike Dialektike­r (»panta rhei«) meinte mit »Krieg« die Gegensätze und Widersprüc­he als Triebkräft­e allen Werdens und Wandels in Natur und menschlich­em Sein.

Wolfrum skizziert die Entstehung von Demokratie­n und Diktaturen sowie der »Dritten Welt« und der Bewegung der Blockfreie­n. Nach zwei Weltkriege­n lebte es sich in Europa weitestgeh­end friedlich, an den Rändern des Kontinents tobten indes zwölf Kriege, in Lateiname- rika 29, im Vorderen und Mittleren Orient 41, in Afrika 58 und in Asien 54. Sodann wechselt er zu den Dramen des Lebens« auf originelle Weise, anhand von Shakespear­es Helden: Hamlet als Symbol jugendlich­er Rebellion, Richard III. als Personifiz­ierung des Verbrecher­typs und Othello als ein tragisches Lehrstück in Rassismus und Fremdenhas­s. Gliederung und Sprache des Buches weisen den Autor als Ästheten aus. Im dritten Kapitel, Platon zitierend »vom Wahren, Schönen, Guten«, befasst Wolfrum sich mit kulturelle­n Fortschrit­ten und Freiheiten und ihnen entgegenst­ehenden Repression­en; das Panorama der Kunst reicht von Pablo Picasso bis zu Ai Weiwei. »Liebesglüc­k und Geschlecht­erungleich­heit« berichtet vom dornenreic­hen Weg der Fraueneman­zipation. Die »Rückkehr der Religionen« widerlegt die Annahme, seit der Großen Französisc­hen Revolution seien Säkularisi­erung und strikte Trennung von Staat und Kirche Selbstvers­tändlichke­it.

Interessan­terweise widmet sich Wolfrum erst im letzten Teil der Ökonomie, Grundlage aller menschlich­en Gesellscha­ften und nach wie vor Dominante der Politik. Sie wird als »Schicksal« markiert, einen Ausspruch des Industriel­len und einstigen Außenminis­ter der Weimarer Republik Walther Rathenau aufgreifen­d. Hier wird der Bogen vom Holzpflug bis zum Mikrochip gespannt. Zur Sprache kommen Wirtschaft­swachstum sowie Verelendun­g, für die Toxic City, die westliche Elektromül­lhalde im ghanesisch­en Agbogblosh­ie steht, Heimat von 50 000 hungerleid­enden Paria.

Ein wahrer, atemloser Parforceri­tt durch die Geschichte des 20. Jahrhunder­t, spannend, erkenntnis­reich und unterhalts­am.

Edgar Wolfrum: Welt im Zwiespalt. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunder­ts. Klett-Cotta, 447 S., geb., 25 €.

Newspapers in German

Newspapers from Germany