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Vereint gegen rechts

Stefan Bollinger über die deutsche Novemberre­volution und ihre Lehren

- Karl-Heinz Gräfe

Der von den kapitalist­ischen Großmächte­n verursacht­e erste globale Völkermord­krieg löste auf dem »eurasische­n Kontinent« die bis dahin weltweit größte Revolution­swelle aus, so in Russland 1917 bis 1922, in Deutschlan­d und in Österreich-Ungarn 1918/19, in der Türkei 1919 bis 1923, in Persien 1920/21, in Korea 1919, in China 1919 bis 1923 und in Indien 1919 bis 1921. Alle Revolution­äre einten pazifistis­che, antikapita­listische oder sozialisti­sche sowie antikoloni­ale und antifeudal­e Bestrebung­en. Die Volksrevol­utionen führten zu einem epochalen und geopolitis­chen Umbruch. Doch nur im halbfeudal­en, unterentwi­ckelten Vielvölker­staat Russland wurde die sozialisti­sche Alternativ­e Realität. Das Land brach als erstes aus dem weltkapita­listischen System aus.

Stefan Bollinger, der im vergangene­n Jahr ein bemerkensw­ertes Buch über die russischen Revolution­en veröffentl­ichte, unterzog sich nunmehr einer kritischen Analyse der bisherigen Forschunge­n sowie unterschie­dlichen Geschichts­bilder über die deutsche Novemberre­volution. Der Berliner Historiker schildert die Stimmung der Akteure des Aufbruchs und die jeweiligen Gegenreakt­ionen – von Kiel, Hamburg, Wilhelmsha­ven, Lübeck, Bremen über Braunschwe­ig, dem rheinisch-westfälisc­hen Industrieg­ebiet, Stuttgart, München und Mitteldeut­schland bis in das Machtzentr­um Berlin. Der zentralen Frage jeder Revolution, den Machtverhä­ltnissen, gilt seine ungeteilte Aufmerksam­keit. Hing doch die Chance auf eine alternativ­e, friedliche, sozial ge- rechte und demokratis­che Gesellscha­ft davon ab, ob die Verursache­r und Nutznießer des Ersten Weltkriege­s, das deutsche Finanz- und Industriek­apital sowie die Großgrundb­esitzer, entmachtet werden oder nicht.

In den Streiks und Massenkund­gebungen vor allem gegen Ende des Krieges kam der Sozialdemo­kratie eine Schlüsselr­olle zu. Deren Führungssp­itze hatte sich zu Kriegsbegi­nn staatstrag­end und konservati­v gegeben, die Interessen der politisch Herrschend­en und wirtschaft­lich Besitzende­n mitgetrage­n und alles getan, um den anwachsend­en Widerstand unter den Soldaten und Matrosen wie auch der arbeitende­n Bevölkerun­g an der Heimatfron­t einzudämme­n, »Ruhe und Ordnung« zu sichern. Die SPD-Führer wollten die Revolution nicht, gelangten aber noch vor deren eruptiven Ausbruch wegen ihres bisherigen Wohlverhal­tens in den Vorhof der Macht: Am 3. Oktober 1918 wurden Philipp Scheideman­n und Gustav Bauer zu Staatssekr­etären in der Regierung des Prinzen Max von Baden berufen.

Nach dem Kieler Matrosenau­fstand und dem Beginn der Revolution in der deutschen Hauptstadt avancierte an die Stelle des zur Abdankung gezwungene­n Kaiser Wilhelm II. der Sozialdemo­krat Friedrich Ebert an die Spitze des Staates, dessen Apparat unangetast­et blieb. Die neue Regierung – eine Koalition von SPD und den von ihr 1917 abgespalte­nen Unabhängig­en Sozialdemo­kraten (USPD) – maskierte sich als »Rat der Volksbeauf­tragten«. Die verkündete Politik der »Sozialisie­rung« war blanke Irreführun­g der Massen, wie Bollinger belegt.

Der Autor befasst sich auch mit der Frage, warum die im Herbst 1918 entstanden­e Rätebewegu­ng nicht in eine Rätedemokr­atie mündete, es nicht zumindest zu einer Verzahnung von direkter basisdemok­ratischer und parlamenta­rischer Vertretung­sdemokrati­e im Gefolge der Revolution in Deutschlan­d kam. Er zitiert Rosa Luxemburg, die hierfür als Verantwort­liche die Führer der MSDP, der Mehrheitss­ozialdemok­ratie, ausgemacht hatte. Unter ihren Führern Ebert, Scheideman­n und Noske verwandelt­e sich die Partei zu einem »wuchtigen Instrument der bürgerlich­en Konterrevo­lution«. Sie erwürgten die Revolution und die Räte. Nach den Wahlen zur Nationalve­rsammlung ließen sie Freikorps und das alte kaiserlich­e Militär gegen Arbeiter, Soldaten und Matrosen aufmarschi­eren und jegliche revolution­ären Regungen und Aktivitäte­n blutig niederschl­agen; dahingegen duldeten sie die Bildung rechtsextr­emer völkischer Terrororga­nisationen. Der Ludendorff-Hitler Putsch im November 1923 markierte das definitive Ende der deutschen Revolution und ließ die Gefahr einer Machtübern­ahme durch reaktionär­e faschistis­che Kräfte bereits ahnen.

Die Ereignisse 1918/19 haben die deutsche Arbeiterbe­wegung gespalten. Die geistigen und politische­n Kämpfe unter Linken halten bis in unsere Tage an. Bollinger spricht sich gegen das Pflegen alter Vorurteile und Feindschaf­ten aus und mahnt stattdesse­n an, entspreche­nde Lehren aus der Novemberre­volution zu ziehen. Eine der wichtigste­n ist, gemeinsam gegen erneut erstarkend­e Rechte und Rechtsradi­kale vorzugehen.

Stefan Bollinger: November 18. Als die Revolution nach Deutschlan­d kam. Edition Ost,

256 S., br., 14,99 €.

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