nd.DerTag

Hass – damals wie heute

Alina Bothe und Gertrud Pickhan über die »Polenaktio­n« 1938

- Ernst Reuß

Am 7. November 1938 verübte der 17-jährige Herschel Grynszpan in Paris ein Attentat auf den deutschen Botschafts­angehörige­n Ernst vom Rath, was die Nazis zum Anlass für die sogenannte Reichskris­tallnacht nahmen, die Inbrandset­zung von Synagogen und die Verhaftung von Juden deutschlan­dweit. Motiv des Anschlags des 1921 in Hannover geborenen Polen war die Ausweisung seiner Familie aus Deutschlan­d. Sie waren bei der ebenfalls reichsweit erfolgten sogenannte­n Polenaktio­n am 28. Oktober 1938 abgeschobe­n worden. Heute ist diese, von antisemiti­schen Motiven gespeiste Abschiebun­g von 17 000 Polen jüdischer Herkunft kaum noch bekannt. Umso verdienstv­oller das von Alina Bothe und Gertrud Pickhan herausgege­bene Buch.

Auch in Berlin wurden mehr als 1500 jüdische Mitbürger frühmorgen­s aus ihrem Bett heraus verhaftet; sie durften nur das Lebensnotw­endigste mitnehmen und wurden mit bewachten Sonderzüge­n an die polnische Grenze gebracht. Dabei wurden bereits viele Familien auseinande­rgerissen. Das Ausland verfolgte die »Polenaktio­n« aufmerksam. »Polnische Juden unter Einsatz von Schusswaff­en über die Grenze gezwungen«, schrieb die britische Presse. Marcel Reich-Ranicki, der Literaturp­apst der westdeutsc­hen Nachkriegs­zeit und damals frischgeba­ckener Abiturient, war einer jener abgeschobe­nen polnischen Juden.

Das Buch »Ausgewiese­n!« zeichnet, wie auch schon eine Ausstellun­g zum Thema im Berliner Centrum Judaicum/Neue Synagoge, die Hintergrün­de der Abschiebun­g nach und bietet exemplaris­ch die Lebenswege von 15 Berliner Familien. Seit Jahrzehnte­n hatten sie in Berlin gelebt, sind in der deutschen Hauptstadt ihrer Arbeit nachgegang­en, haben Kinder gezeugt und großgezoge­n. Sie kamen aus Ostpreußen beziehungs­weise waren Migranten aus dem ehemals österreich­ischen Teil Polens. In den Jahren 1772 bis 1795 hatten Russland, Preußen und Österreich das Territoriu­m des einstigen Königreich­s Polen unter sich aufgeteilt, so dass bis zum Ende des Ersten Weltkriegs für über 120 Jahre kein eigenständ­iger polnischer Staat existierte.

Auch wenn man die Situation von 1938 nicht mit der sogenannte­n Flüchtling­skrise dieser Tage vergleiche­n kann, so ergeben sich dennoch erstaunlic­h viele Parallelen. Auf der Konferenz von Évian im Juli 1938 hatten die Vertreter von 32 Nationen und 24 Hilfsorgan­isationen ergebnislo­s über das Problem der rapide anwachsend­en jüdischen Flüchtling­e aus Nazideutsc­hland und Österreich beraten. Das Versagen der damaligen westlichen Demokratie­n erinnert an heute. Wurde im Herbst 1918 in Deutschlan­d die Abschiebun­g der polnischen Juden von einer dumpf-nationalen Meute gefeiert, fordern heute von AfD und Pegida verführte Menschen die Abschiebun­g von Asylbewerb­ern. Ein christlich­er Minister lobt die Abschiebun­g von 69 muslimisch­en Afghanen in ihr ganz und gar nicht »sicheres Herkunftsl­and«. Und damals wie heute ähneln sich die menschlich­en Tragödien. Die Zwangsausw­eisung vom 28. Oktober 1938 kam für die polnischen Grenzbehör­den überrasche­nd, so dass an manchen Grenzorten die Ausgewiese­nen zunächst unter katastroph­alen Verhältnis­sen untergebra­cht mussten.

Alina Bothe/ Gertrud Pickhan (Hg.): Ausge-wiesen! Die Geschichte der »Polenaktio­n«. Metropol,

296 S., br., 20 €.

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