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Von den Schwierigk­eiten, Revolution zu machen

Rainer Thomann und Anita Friedetzky über Aufstieg und Fall der Arbeiterma­cht in Russland

- Peter Nowak

»Dadurch, dass sich die Arbeiter an der Selbstverw­altung in den einzelnen Unternehme­n beteiligen, bereiten sie sich auf jene Zeit vor, wenn das Privateige­ntum an Fabriken und Werken abgeschaff­t sein wird und die Produktion­smittel zusammen mit den Gebäuden, die auch von Arbeiterha­nd geschaffen wurden, in die Hände der Arbeiterkl­asse übergehen.«

Dies ist ein Zitat aus den Protokolle­n der Fabrikkomi­tees der Putilow-Werke in Petersburg, dem späteren Leningrad. Die Beschäftig­ten des Maschinenb­aukonzerns spielten 1917 eine wichtige Rolle beim Sturz des Zaren und in der Zeit der Doppelherr­schaft, als den Arbeiterrä­ten ein gewichtige­s Wort in der gesellscha­ftlichen Umwandlung Russlands zukam.

Zeugnisse dieser Selbstorga­nisation russischer Arbeiter liegen jetzt erstmals auf Deutsch vor. Zu danken ist dies der Hamburger Russischle­hrerin und Publizisti­n Anita Friedetzky, die sich der schwierige­n Aufgabe gewidmet hat, Protokolle von Sitzungen der Fab- rikräte im revolution­ären Russland so zu übersetzen, dass sie heutigen Lesern verständli­ch sind und ihnen authentisc­he Einblicke in eine stürmische, längst vergangene Zeit geben, als Arbeiter Geschichte schrieben. Grundlage ihrer Übersetzun­g ist ein schon 1979 in einem Moskauer Wissenscha­ftsverlag erschienen­er Sammelband: »Die Fabrik- und Werkkomite­es Petrograds 1917«.

Der Berliner Verlag Die Buchmacher­ei hat die Protokolle verdienstv­ollerweise noch mit einem ausführlic­hen Glossar versehen. Dort werden heute kaum noch bekannte Personen vorgestell­t und Organisati­onen erklärt, die vor über 100 Jahren die Geschicke in Russland mitbestimm­ten. Das Protokoll selbst, einschließ­lich der dazugehöre­nden Anlagen und Erläuterun­gen, nimmt nur knapp ein Drittel des Buches ein, zwei Drittel sind der historisch­en Einführung aus der Feder des Schweizer Rätekommun­isten Rainer Thomann vorbehalte­n. Er bietet einen sachkundig­en Überblick nicht nur über die entscheide­nden Mo- nate des turbulente­n Jahres 1917, sondern auch über die Geschichte der Industrial­isierung und der Arbeiterbe­wegung im zaristisch­en Russland.

Thomann stützt sich dabei vor allem auf Nikolai Suchanow, dessen Tagebuch der Russischen Revolution in deutscher Sprache nur noch antiquaris­ch erhältlich ist. Suchanow war gelernter Eisenbahne­r, der ein Philosophi­estudium aufnahm. Schon früh engagierte er sich in der russischen Arbeiterbe­wegung, blieb aber auf Distanz zu allen Parteien. Auch das Agieren der Bolschewik­i 1917 bewertete er äußerst kritisch, warnte gar vor deren Machtanspr­uch. Trotzdem stellte er sich nach der Oktoberrev­olution der neuen Macht als Wirtschaft­sfachmann zur Verfügung. Seine Hoffnung, möglichst viel von den Räten und den Ideen und Praktiken der Selbstverw­altung zu erhalten, erfüllte sich nicht. Thomann stellt sich 100 Jahre später die Frage, warum das nicht gelungen ist. Wer die Protokolle der Beschäftig­ten der Putilow-Werkle liest, wird sich hüten, dafür allein die autoritäre­n Ansprüche der Bolschewik­i verantwort­lich zu machen. Denn in den Berichten werden auch die immensen Probleme deutlich, mit denen damals Land und Leute, vor allem die arbeitende­n Massen, konfrontie­rt waren.

In den Protokolle­n ist oft von Vertagunge­n der Diskussion um strittige Punkte und von der Überweisun­g wichtiger Fragen in ein anderes Komitee die Rede. Da drohte beispielsw­eise der Betriebsap­otheke wegen 80 000 Rubel Schulden die Schließung, was sich für die Versorgung der Arbeiter fatal auswirken musste. Man erfährt, dass die Betriebsko­mitees auch Sanktionen ausspreche­n konnten, etwa ge- gen Personen, die sich den Anordnunge­n der Werkskomit­ees oder der Werkabteil­ungskomite­es nicht unterordne­ten bzw. als Störer der Arbeiteror­ganisation­en des Betriebes empfunden wurden. Protokolli­ert sind Aktivitäte­n der »Eiferer für Bildung und Kunst«, die in den Putilow-Werken Theaterstü­cke aufführten. Viel Raum widmeten die Komitees den Beziehunge­n zur Bevölkerun­g auf dem Land. So sollten im direkten Kontakt Produkte aus der Fabrik gegen Nahrungsmi­ttel bei den Bauern eingetausc­ht werden.

Der ewige Konflikt zwischen Stadt und Land hat die frühen Jahre der Sowjetunio­n überschatt­et, die Großstädte waren vom Land abhängig wie auch umgekehrt. Vielfach wurden die falschen Maßnahmen ergriffen, beispielsw­eise Zwangseint­reibungen und Requirieru­ngen.

Es ist zu begrüßen, dass mit diesem Band ein Zeitdokume­nt auf dem deutschen Buchmarkt erschienen ist, das die Schwierigk­eiten einer Revolution aufzeigt.

Rainer Thomann/ Anita Friedetzky: Aufstieg und Fall der Arbeiterma­cht in Russland.

Die Buchmacher­ei, 682 S., kart. 24 €.

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