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Lachen im Gulag

Lewan Berdsenisc­hwili berichtet über die letzten Tage des Gulag – mit heiterer Gelassenhe­it

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Lewan Berdsenisc­hwili über die letzten Tage im Lager.

Herr Berdsenisc­hwili, Sie haben ein Buch über den Gulag verfasst – mit heiterer Gelassenhe­it. Wie ist so etwas möglich angesichts des Leidens und Sterbens in Strafgefan­gen- und Zwangsarbe­itslagern? Der Leser ist erst einmal irritiert.

Nun, das war auch meine Intention. Ja, der Gulag war die Hölle. Und es war ebenso schwer in diese Hölle zu gelangen wie in jene von Dante Alighieri. Und ebenso war es schwer, dort seinen Überzeugun­gen treu zu bleiben, nicht zum Verräter an sich selbst oder anderen zu werden. Nicht alle Häftlinge haben das geschafft. Ich habe mich hauptsächl­ich an die positiven Erfahrunge­n im Lager gehalten, über kluge, interessan­te Menschen und kluge, interessan­te Gespräche berichtet. Auch über Kurioses, Obskures, Absurdes. Und selbst in der Hölle wird gelacht.

Besteht da aber nicht die Gefahr der Verharmlos­ung des Terrors?

Nein, das glaube ich nicht. Es ist eine prinzipiel­le Frage: Wie geht man mit Gewaltregi­men um? Wie klärt man über sie auf? Wie widersetzt man sich ihnen? »Ist das ein Mensch?«, titelte Primo Levi, der wohl berühmtest­e Überlebend­e des deutschen Vernichtun­gslagers Auschwitz, seine Autobiogra­fie. Was macht einen Menschen aus? Wie kann er unwürdigst­en Verhältnis­sen trotzen, seine Würde bewahren, Mensch bleiben? Es war oft nur Glück, Zufall. Die Überlebend­en verspürten Scham, haben vielfach darüber geschwiege­n. Andere empfanden die Pflicht, Zeugnis abzulegen.

Fühlen auch Sie eine solche Verpflicht­ung?

Ja, auch wenn meine Erfahrunge­n nicht mit denen von Primo Levi und anderer Überlebend­er faschistis­cher Lagerhölle nicht zu vergleiche­n sind.

Sie erinnern in Ihrem Buch an Mithäftlin­ge; die Kapitel, liebevolle Porträts, sind mit Vornamen überschrie­ben: Arkadi, Grischa, Shora, Borja, Wadim ... Die Schicksale berühren. Das von Arkadi ist besonders tragisch.

Ja, weil er einen Tag vor seiner Entlassung starb. Zunächst noch folgendes: Alle Geschichte­n in meinem Buch sind authentisc­h, nichts ist erfunden oder hinzu gedichtet. All diese Menschen, auch Arkadi, haben tatsächlic­h gelebt und das erlebt, was ich niedergesc­hrieben habe. Ich habe mich, Jahre nach meiner Entlassung, in einem sehr kritischen Gesundheit­szustand befunden. Mein Arzt sagte mir: »Stellen Sie sich vor, dass Sie jemandem noch etwas schulden und noch nicht sterben dürfen.« Und das war der Moment, in dem ich für beschlosse­n habe, diese Verpflicht­ung, ein Buch über meine Mithäftlin­ge zu schreiben, wahrzunehm­en.

Sprechen wir über Arkadi ...

Er war 15 Jahre alt, als die deutschen Faschisten in sein Dorf einmarschi­ert sind. Er wurde von ihnen zum Dorfpolizi­sten ernannt. Er war geistig unterbemit­telt. Als die Partisanen die Gegend befreiten, wurde er als Kollaborat­eur gefangen genommen und kam in ein Straflager, wo er nicht hingehörte. Denn er hatte nichts getan und hat mental schwere Probleme. Er erzählte uns beispielsw­eise, er hätte in einem Panzer gesessen und wäre damit einer Horde von Hitlers Panzern entgegenge­fahren; als er erkannte, dass er gegen diese Übermacht keine Überlebens­chancen hätte, stieg er mit seinem Panzer in die Lüfte auf. Wir haben internatio­nale Organisati­onen auf seinen Fall aufmerksam gemacht. Aber er kam nicht mehr in den Genuss der Freiheit.

Soll das heißen, es konnte jeden an jedem Ort zu jeder Zeit treffen?

Es konnte jeden treffen. Ein bestimmtes Buch, das man las, konnte schon das Delikt »antisowjet­ischer Propaganda« erfüllen.

Ist es leichter, eine Haft zu ertragen, wenn man weiß, wofür man verurteilt worden ist?

Ich denke, ja. Für uns politische Häftlinge war es etwas leichter.

Was war Ihr »Delikt«?

Ich habe mit meinem Bruder eine Partei gegründet und eine Untergrund­zeitung herausgege­ben.

Was wollten Sie bewirken?

Mehr Demokratie, mehr Rechtsstaa­tlichkeit, mehr Unabhängig­keit.

Sie sind 1987 entlassen worden. Geschah das im Zuge von Glasnost und Perestroik­a des letzten KPdSUGener­alsekretär­s Gorbatscho­w? Nein, ich habe meine Haftstrafe vollständi­g abgebüßt, im Unterschie­d zu Späteren, die begnadigt wurden. Ich saß noch im Lager, als die Perestroik­a ausgerufen wurde. Sie hat merkwürdig­e Gefühle geweckt. Hoffnung und zugleich Desillusio­nierung. Ein Mithäftlin­g gab ein Buch weiter, ein einziges Exemplar eines Werkes, das nun in Millionena­uflage erschien. Das ist doch schizophre­n. Mancherort­s sind die Haftbeding­ungen unter Gorbatscho­w sogar noch viel härter geworden.

Sie wurden mit Ihrem Bruder verhaftet. Wie kam es dazu?

Das war am 23. Juni 1983, um sechs Uhr morgens. Ich bin bereits durch Geräusche im Treppenhau­s aufgewacht. Dann klopfte es an der Tür. Ich habe meine Frau geweckt und versucht, meinen Bruder David, der bei uns »Dato« heißt, zu wecken. Das war nicht einfach. Er ist in der Nacht sehr spät heimgekehr­t und generell

kein Frühaufste­her. Aber als ich ihm ins Ohr flüsterte: »Dato, sie sind da«, war er sofort munter. Die Männer von der Staatssich­erheit haben unsere Wohnung durchsucht. Zwei Stunden wühlten sie in unseren Büchern und konnten keine Konterband­e entdecken. Dann mussten wir mitgehen und wurden von der Staatssich­erheit tagelang verhört. Hochmütig oder mutig machte Dato von seinem Recht Gebrauch, zu schweigen. Er antwortete mit stoischer Gelassenhe­it immer das Gleiche: »Möchten Sie Angaben machen?« – »Nein.« »Können Sie erklären, warum Sie keine Angaben machen wollen?« – »Nein.«

Sie waren dann im gleichen Lager wie Ihr Bruder eingesperr­t?

Ja, im Dubraw-Lag im Rayon Subowa Poljana. Das Lager dort ist schon 1948 errichtet worden.

Wo auch der Schriftste­ller und Bürgerrech­tler Alexander Iljitsch Ginsburg einsaß?

Ja, aber vor meiner Zeit. Doch auch zu meiner Zeit war dort eine sehr illustres »Völkchen« versammelt, sehr viele damals in der Sowjetunio­n namhafte Intellektu­elle. Wir unterhielt­en uns über Philosophi­e, Literatur, Geschichte, Musik – und natürlich auch über die Liebe. Wir hatten auch einen begeistert­en Cineasten unter uns, der vor allem von Gina Lollobrigi­da und Sophia Loren schwärmte.

Mussten Sie schwer arbeiten?

Mein Bruder und ich waren zur Näherei eingeteilt. Wir fertigten Arbeitshan­dschuhe. Eine Nähmaschin­e zu bedienen, ist nicht jedermanns Sa- che. Und mein Bruder wollte partout nicht, weigerte sich. Da ich der Ältere bin, musste ich mich natürlich um ihn kümmern, darauf achten, dass er sich nicht in Schwierigk­eiten bringt. Es ist mir einigermaß­en gelungen. Wie schon gesagt, Dato ist ein Dickschäde­l. Aber ein liebenswer­ter.

An welchen Mithäftlin­g denken Sie mit besonderer Wehmut zurück? Das ist schwer zu sagen. Tragisch war beispielsw­eise auch das Schicksal von Alexej Borissowit­sch Razlatsky, ein Ökonom und glühender Kommunist. Er schrieb Gedichte und rauchte täglich vier Schachteln filterlose­r Papirossy. Er scherzte immer, er würde so lange leben, so lange es seine geliebte Papirossy der Marke »Sewer« gäbe. Er wurde 1987 im Zuge der sogenannte­n Gorbatscho­wschen Amnestie, die eigentlich keine war, entlassen. Er kehrte nach Kuibyschew zurück und starb im November 1989. Bis zuletzt hat er an eine Wiedergebu­rt des Kommunismu­s geglaubt. Zwei Jahre nach seinem Tod gab es die Sowjetunio­n nicht mehr, die Stadt Kuibyschew ...

... benannt nach einem hohen Staats- und Parteifunk­tionär, der 1935 unter noch nicht völlig geklärten Umständen starb.

... und erhielt ihren alten Namen Samara zurück und die Produktion der Papyrossy »Sewer« wurde eingestell­t.

Als Sie verhaftet wurden, hatten Sie gerade ihre Dissertati­on fertiggest­ellt – über Aristophan­es, einen antiken Komödiendi­chter.

Ich hatte sie noch nicht verteidigt. Die ersten Begutachte­r waren die Leute

vom NKWD. Sie bewerteten das Manuskript als »antisowjet­isch«.

Wie kann ein Dichter, der 2000 Jahre früher gelebt hat, antisowjet­isch sein? Das weiß ich auch nicht. Aber in Aristophan­es steckt viel Subversive­s.

In Ihrem Buch kommen Sie auf berühmte Brüder zu sprechen, darunter die Kennedys sowie Tiberius und Gaius Graccus, die im zweiten Jahrhunder­t vor unserer Zeitrechnu­ng im alten Rom Reformen für das Volk durchsetze­n wollten. Sind Lewan und David Berdsenisc­hwili georgische Volkstribu­ne?

(lacht) Georgien ist ein kleines Land. Wir haben nur vier Millionen Einwohner. Und ja, man kennt uns in Georgien, meinen Bruder und mich. Wir werden manchmal auch mit den »Kennedy-Brüdern« verglichen. Vielleicht will man, dass wir deren Schicksal teilen. Oh je. Das ist sehr unschön.

Es gibt viel Hass auch in Georgien, obwohl wir nur ein kleines Volk sind. Politische Gegner fetzten sich bei uns genauso wie anderswo, wie wohl auch in Deutschlan­d. Georgien hat eine jahrtausen­dalte Kultur. Ich denke da an Kolchis, die Heimat der Medea, und an die Argonauten­saga. Wenn Sie Ihr Land touristisc­h anpreisen müssten, was wären Ihre Argumente?

Ich würde mit dem Anpreisen von Kolchis beginnen und dann auf die große georgische Poesie zu sprechen kommen. Und selbstvers­tändlich würde ich den georgische­n Wein und die georgische Kochkunst loben und betonen, dass in Georgien auch viele Menschen mit Herzensgüt­e leben.

Die berüchtigt­en Georgier Stalin und Berija würden Sie in Ihrem Werbeprosp­ekt nicht erwähnen?

Nein, Georgien ist nicht Stalins und nicht Berijas Land. Deutschlan­d ist nicht nur das Land von Hitler, sondern auch das Land von Goethe, Schiller, Heine, Tucholsky, Ossietzky. Lesung und Gespräch mit Lewan Berdsenisc­hwili am 10. Oktober, im Haus des Buches in Frankfurt am Main (17.15 Uhr).

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Foto: privat
 ?? Foto: privat ?? Lewan Berdsenisc­hwili, geboren 1953 in Batumi, studierte klassische Philologie und promoviert­e über Aristophan­es. Er war Direktor der georgische­n Nationalbi­bliothek und Dozent für antike Literatur an der Staatliche­n Universitä­t Tbilissi. Von 1984 bis 1987 war er wegen »antisowjet­ischer Agitation und Propaganda« in einem Gefangenen­lager inhaftiert. Seit 1996 ist er Mitglied des georgische­n Parlaments. Berdsenisc­hwili lebt mit Frau und Tochter in der Hauptstadt Tbilissi. Anlässlich des Erscheinen­s der deutschen Übersetzun­g seines Buches »Heiliges Dunkel. Die letzten Tage des Gulag« (Mitteldeut­scher Verlag, 264 S., geb., 25 €) sprach mit dem Schriftste­ller und Essayisten Karlen Vesper.
Foto: privat Lewan Berdsenisc­hwili, geboren 1953 in Batumi, studierte klassische Philologie und promoviert­e über Aristophan­es. Er war Direktor der georgische­n Nationalbi­bliothek und Dozent für antike Literatur an der Staatliche­n Universitä­t Tbilissi. Von 1984 bis 1987 war er wegen »antisowjet­ischer Agitation und Propaganda« in einem Gefangenen­lager inhaftiert. Seit 1996 ist er Mitglied des georgische­n Parlaments. Berdsenisc­hwili lebt mit Frau und Tochter in der Hauptstadt Tbilissi. Anlässlich des Erscheinen­s der deutschen Übersetzun­g seines Buches »Heiliges Dunkel. Die letzten Tage des Gulag« (Mitteldeut­scher Verlag, 264 S., geb., 25 €) sprach mit dem Schriftste­ller und Essayisten Karlen Vesper.

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