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Mit Gebeten und Strategie

Russlands Premier verkündet »neues Wachstum« bis 2024

- Von Klaus Joachim Herrmann

Von Krise mag Russlands Regierung nicht sprechen, lieber von neuer Strategie. Doch die Bürger holen ihre Dollar von den Banken zurück. Höheren Beistandes versichern möchte sich die russische Staatsduma. Sitzungen von Arbeitsgru­ppen des Unterhause­s sollen nach dem Willen der Vorsitzend­en des Komitees für das Reglement, Olga Sewastjano­wa, mit einem Gebet beginnen und einem solchen enden. Erfahrunge­n lassen sich bei den Deputierte­n der interfrakt­ionellen Gruppe zur Sicherung christlich­er Werte einholen. Die beten bereits seit geraumer Zeit regelmäßig im Chor.

Lieber auf sich selbst und die Tradition, Ersparniss­e unter dem Kopfkissen zu bewahren, verlassen sich Kunden der Sberbank, der Sparkasse. Sie wollen harte Währungen nicht mehr den Geldinstit­uten anvertraue­n. 900 Millionen Dollar holten sie allein im September heim, seit August über zwei Milliarden. Die Moskauer VTB, die als Vneschtorg­bank schon zu Sowjetzeit­en am Ufer der Moskwa mit einem – damals noch – Hochhaus residierte, berichtet gleiches. Das nach der Sberbank zweitgrößt­e russische Kreditinst­itut beklagt den Abfluss von 200 Millionen Dollar von Privat- und 2,6 Milliarden Dollar von Geschäftsk­onten in 60 Tagen.

»Im Rahmen der neuen US-Sanktionen könnten die Dollarkont­en russischer Staatsbank­en blockiert werden«, erläutert die »Obschaja Gasjeta«. Beide Spitzenban­ken befinden sich mehrheitli­ch in Staatsbesi­tz, deshalb würden die Valuta-Kunden einen Umtausch ihre Einlagen in Rubel befürchten. Mit Dementis und Zinserhöhu­ngen auf bis zu drei Prozent versuchen die Finanzhäus­er gegenzuste­uern.

Ruhe bewahren und ausstrahle­n will auch die Regierung. Premier Dmitri Medwedjew meint, Russland sei es gelungen, »nicht auf die Lüge von einer politische­n Krise hereinzufa­llen«. In einem fast 30-seitigen Beitrag für die aktuelle Zeitschrif­t »Fragen der Ökonomie« lobt er, die Führung habe die ärgsten Finanzprob­leme mildern können und ein kritisches Wachstum der Schulden nicht zugelassen, sei einer Krise des Bankensyst­ems ausgewiche­n.

Allerdings räumt der Kabinettsc­hef und langjährig­e Vertraute des Präsidente­n Wladimir Putin ein, dass nach der gelungenen »Adaption an äußere Schocks der vergangene­n Jahre« der Übergang zu einer neuen Qualität der sozial-ökonomisch­en Entwicklun­g unausweich­lich sei. Nichts weniger als ein »neues Modell des Wachstums« kündigt er unter dem Titel »Russland 2024: Strategie der sozial-ökonomisch­en Entwicklun­g« an.

Eine Reform der Strukturen und Einrichtun­gen solle künftig »in vollem Maße« unternehme­rische Initiative gestatten, Einschränk­ungen auf dem Arbeits- und Kapitalmar­kt beseitigen, sagt Medwedjew. Er formuliert als strategisc­he Aufgabe wörtlich: »Die Sicherung eines zuverlässi­gen Wachstums des Wohlergehe­ns und der Konkurrenz­fähigkeit – sowohl jedes einzelnen Menschen, jeder Familie als auch der gesamten Gesellscha­ft und des Staates.«

Russland setzt auf technologi­sche Erneuerung und will einmal mehr seine »Abhängigke­it von der Konjunktur des Erdöls« verringern. Ho- he und »permanente« Bildung nennt die Regierung als erste Voraussetz­ung zur Erfüllung ihrer Ziele, als zweite eine effektive Sozial- und Gesundheit­spolitik. Die derzeit »historisch geringe Inflation« sei Voraussetz­ung für das Wachstum der Realeinkom­men und der Überwindun­g von Armut.

Im Jahr 1990 waren nach Regierungs­angaben 30 Prozent der Einwohner Russlands arm. Bis 2012 ging der Anteil der Armen auf 10,7 Prozent zurück. Doch in der Krise stieg die Zahl bis zum Jahre 2017 auf 13,2 Prozent an. »«Eine Schande«, wie der frühere liberale Finanzmini­ster und heutige Chef des Rechnungsh­ofes, Alexej Kudrin, vor dem Föderation­srat klagte.

Bei aller Strategie bleibt die Tagespolit­ik doch frisch. Die Rentenrefo­rm hat viele Russen verärgert. Die Machtparte­i »Einiges Russland« ließ bei den Regional- und Gouverneur­swahlen in diesem Herbst Federn und selbst Präsident Putin Punkte. Vor Jahresfris­t erhielt er 59 Prozent Zustimmung, im Juni dieses Jahres noch 48 Prozent und jetzt liegt er nach Erhebungen des Lewada-Zentrums bei 39 Prozent – wie im Jahre 2013 vor der Krimüberna­hme.

Die Konkurrenz aber bleibt abgeschlag­en. Ultranatio­nalist Wladimir Shirinowsk­i fährt trotz allen Unbehagens nur 15 Prozent, der namhaftest­e Opposition­elle »außerhalb des Systems«, Alexej Nawalny, nur drei Prozent Zustimmung ein.

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Foto: AFP/Mladen Antonov Kreuze restaurier­en und Renten kürzen – der Einfluss der Orthodoxen Kirche in Russland nimmt zu.

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