Neues Label für den Stressabbau
Der Hype um die Achtsamkeit sollte kritisch hinterfragt werden, denn dahinter verbirgt sich auch eine viel genutzte Geschäftsidee
Führt allein die Beschäftigung mit eigenen Bedürfnissen zu einer Verbesserung des Befindens oder ist es das Achtsamkeitstraining selbst? Wissenschaftler sehen noch Forschungsbedarf. Um Achtsamkeit gibt es seit einigen Jahren einen ziemlichen Hype. Entsprechende Trainings eignen sich offenbar auch gut als Geschäftsidee. Allein die verschiedenen Definitionen von Achtsamkeit sind verwirrend. Mal wird der Begriff mit Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse anderer Menschen (care), mal als besonderer Wahrnehmungs- und Bewusstseinszustand (mindfulness) definiert. Im Buddhismus, aus dem die Achtsamkeitsidee stammt, steht der Begriff für einen Zustand der Erkenntnis, der nur von wenigen Auserwählten erreicht werden kann. Kritiker wie der Psychologe Jan Rummel von der Universität Heidelberg sehen in dem Definitionswirrwarr ein Problem, das zu der lückenhaften Wirksamkeitsüber- prüfung beiträgt. Das anhaltende Interesse an Achtsamkeitstrainings und der entsprechenden Ratgeberliteratur schreibt der Grundlagenforscher vor allem der Tatsache zu, dass Achtsamkeit den Zeitgeist trifft. Bei Achtsamkeit soll man den Zustand der Wachheit erhöhen.
Die Übungen sind denen der Muskelentspannung nach Jacobsen nicht unähnlich, haben jedoch eine weiter reichende Zielsetzung. Beim Body Scan, einem Begriff, der im Achtsamkeitstraining verwendet wird, fühlt man sich auch in die einzelnen Muskelgruppen hinein, aber mit einem anderen Fokus als bei der Muskelentspannung. Welche Aspekte des Achtsamkeitstrainings besonders wirksam sind und warum, das sind noch offene Fragen.
Rummel bestreitet nicht, dass Achtsamkeitskurse und -übungen positive Effekte haben können. »Einige Untersuchungen sprechen durchaus dafür. In welchem Maße es sich um eine direkte Wirksamkeit oder um eine Wirksamkeit über den Umweg einer Art Placebo-Wirkung handelt, ist jedoch nicht geklärt.« Eine solche bestünde zum Beispiel, wenn eine Person, die aktiv ihre Probleme angeht, etwa durch Besuchen eines Achtsamkeitsworkshops, sich allein durch das Aktivwerden bereits besser fühlt.
Rummel rät deshalb zuallererst Psychologinnen, Psychologen und weiteren Anwendern, die die Studienlage fachlich beurteilen können, die Gültigkeit und Tragweite von Aussagen zu Achtsamkeit als eine Art Allheilmittel kritisch zu hinterfragen. Aber auch Laien, die Zeit und Geld für Achtsamkeitstraining auszugeben bereit sind, sollten wissen, dass sich hinter den verschiedenen Angeboten mit dem neuen Label ganz unterschiedliche Maßnahmen verbergen, die mehr oder weniger effektiv sein können.
Zur Behandlung verschiedener psychischer Störungen wird Achtsamkeitstraining unterschiedlichen Erhebungen zufolge recht erfolgreich eingesetzt. Auch im Bereich der Berufs- und generellen Lebenserfolgsoptimierung gibt es Befürworter. »Oft basieren diese Empfehlungen aber bei genauerem Hinschauen doch auf einer noch uneinheitlichen Datenlage und eher anekdotischen Einzelfallberichten, so dass ich keine klare Empfehlung aussprechen kann«, erklärt Jan Rummel.
Im klinischen Bereich sei Achtsamkeit bereits besser definiert; dort bestünden ernste Bemühungen, Achtsamkeit besser zu strukturieren und Therapien auf dieser Basis wissenschaftlich zu begleiten. In klinischen Patientenstudien wird das subjektive Wohlbefinden von Gruppen bereits erfasst, von denen eine ein Achtsamkeitstraining absolviert hat, die andere nicht. Man weiß am Ende trotzdem nicht, ob ein Placeboeffekt oder das Achtsamkeitstraining selbst bei Patienten wirkte. Gute Evidenz dafür, dass Achtsamkeit tatsächlich eine Wirkung über die Zeit der Übung hinaus hat, liefern neuropsychologische Studien. Sie belegen Veränderungen im Gehirn bei Personen, die ihre Achtsamkeit trainieren. Erkennbar sind unter anderem eine verringerte Ruheaktivität im Gehirn (die Personen sind im Ruhezustand mehr bei der Sache) und eine stärkere Aktivität auf bestimmte Reize selbst dann, wenn diese Personen gerade keine Achtsamkeitsübung ausführen. Das spricht dafür, dass ein solches Training tatsächlich dauerhafte neuronale Veränderungen bewirken kann. »Aber auch das«, so wendet Rummel ein, »lässt wissenschaftlich betrachtet noch keine eindeutige Aussage darüber zu, ob das, was das Achtsamkeitstraining bewirkt, zur Steigerung des Wohlgefühls geführt hat oder ob Letzteres doch ein Placeboeffekt ist.«
Den Einwand, Achtsamkeitsübungen könnten auf keinen Fall Schaden anrichten, lässt der Wissenschaftler nicht gelten. »Kliniker sprechen von Primär- und Sekundärschaden. So gesehen, läge der Sekundärschaden bei einem wirkungslosen Achtsamkeitstraining darin, dass dem Patienten in dieser Zeit nicht anderweitig geholfen wird. Deshalb sind Wirksamkeitsstudien auch dann wichtig, wenn kein Primärschaden zu erwarten ist. Hier besteht noch weiterer Forschungsbedarf.«