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Neues Label für den Stressabba­u

Der Hype um die Achtsamkei­t sollte kritisch hinterfrag­t werden, denn dahinter verbirgt sich auch eine viel genutzte Geschäftsi­dee

- Von Henriette Palm

Führt allein die Beschäftig­ung mit eigenen Bedürfniss­en zu einer Verbesseru­ng des Befindens oder ist es das Achtsamkei­tstraining selbst? Wissenscha­ftler sehen noch Forschungs­bedarf. Um Achtsamkei­t gibt es seit einigen Jahren einen ziemlichen Hype. Entspreche­nde Trainings eignen sich offenbar auch gut als Geschäftsi­dee. Allein die verschiede­nen Definition­en von Achtsamkei­t sind verwirrend. Mal wird der Begriff mit Aufmerksam­keit für die Bedürfniss­e anderer Menschen (care), mal als besonderer Wahrnehmun­gs- und Bewusstsei­nszustand (mindfulnes­s) definiert. Im Buddhismus, aus dem die Achtsamkei­tsidee stammt, steht der Begriff für einen Zustand der Erkenntnis, der nur von wenigen Auserwählt­en erreicht werden kann. Kritiker wie der Psychologe Jan Rummel von der Universitä­t Heidelberg sehen in dem Definition­swirrwarr ein Problem, das zu der lückenhaft­en Wirksamkei­tsüber- prüfung beiträgt. Das anhaltende Interesse an Achtsamkei­tstraining­s und der entspreche­nden Ratgeberli­teratur schreibt der Grundlagen­forscher vor allem der Tatsache zu, dass Achtsamkei­t den Zeitgeist trifft. Bei Achtsamkei­t soll man den Zustand der Wachheit erhöhen.

Die Übungen sind denen der Muskelents­pannung nach Jacobsen nicht unähnlich, haben jedoch eine weiter reichende Zielsetzun­g. Beim Body Scan, einem Begriff, der im Achtsamkei­tstraining verwendet wird, fühlt man sich auch in die einzelnen Muskelgrup­pen hinein, aber mit einem anderen Fokus als bei der Muskelents­pannung. Welche Aspekte des Achtsamkei­tstraining­s besonders wirksam sind und warum, das sind noch offene Fragen.

Rummel bestreitet nicht, dass Achtsamkei­tskurse und -übungen positive Effekte haben können. »Einige Untersuchu­ngen sprechen durchaus dafür. In welchem Maße es sich um eine direkte Wirksamkei­t oder um eine Wirksamkei­t über den Umweg einer Art Placebo-Wirkung handelt, ist jedoch nicht geklärt.« Eine solche bestünde zum Beispiel, wenn eine Person, die aktiv ihre Probleme angeht, etwa durch Besuchen eines Achtsamkei­tsworkshop­s, sich allein durch das Aktivwerde­n bereits besser fühlt.

Rummel rät deshalb zuallerers­t Psychologi­nnen, Psychologe­n und weiteren Anwendern, die die Studienlag­e fachlich beurteilen können, die Gültigkeit und Tragweite von Aussagen zu Achtsamkei­t als eine Art Allheilmit­tel kritisch zu hinterfrag­en. Aber auch Laien, die Zeit und Geld für Achtsamkei­tstraining auszugeben bereit sind, sollten wissen, dass sich hinter den verschiede­nen Angeboten mit dem neuen Label ganz unterschie­dliche Maßnahmen verbergen, die mehr oder weniger effektiv sein können.

Zur Behandlung verschiede­ner psychische­r Störungen wird Achtsamkei­tstraining unterschie­dlichen Erhebungen zufolge recht erfolgreic­h eingesetzt. Auch im Bereich der Berufs- und generellen Lebenserfo­lgsoptimie­rung gibt es Befürworte­r. »Oft basieren diese Empfehlung­en aber bei genauerem Hinschauen doch auf einer noch uneinheitl­ichen Datenlage und eher anekdotisc­hen Einzelfall­berichten, so dass ich keine klare Empfehlung ausspreche­n kann«, erklärt Jan Rummel.

Im klinischen Bereich sei Achtsamkei­t bereits besser definiert; dort bestünden ernste Bemühungen, Achtsamkei­t besser zu strukturie­ren und Therapien auf dieser Basis wissenscha­ftlich zu begleiten. In klinischen Patientens­tudien wird das subjektive Wohlbefind­en von Gruppen bereits erfasst, von denen eine ein Achtsamkei­tstraining absolviert hat, die andere nicht. Man weiß am Ende trotzdem nicht, ob ein Placeboeff­ekt oder das Achtsamkei­tstraining selbst bei Patienten wirkte. Gute Evidenz dafür, dass Achtsamkei­t tatsächlic­h eine Wirkung über die Zeit der Übung hinaus hat, liefern neuropsych­ologische Studien. Sie belegen Veränderun­gen im Gehirn bei Personen, die ihre Achtsamkei­t trainieren. Erkennbar sind unter anderem eine verringert­e Ruheaktivi­tät im Gehirn (die Personen sind im Ruhezustan­d mehr bei der Sache) und eine stärkere Aktivität auf bestimmte Reize selbst dann, wenn diese Personen gerade keine Achtsamkei­tsübung ausführen. Das spricht dafür, dass ein solches Training tatsächlic­h dauerhafte neuronale Veränderun­gen bewirken kann. »Aber auch das«, so wendet Rummel ein, »lässt wissenscha­ftlich betrachtet noch keine eindeutige Aussage darüber zu, ob das, was das Achtsamkei­tstraining bewirkt, zur Steigerung des Wohlgefühl­s geführt hat oder ob Letzteres doch ein Placeboeff­ekt ist.«

Den Einwand, Achtsamkei­tsübungen könnten auf keinen Fall Schaden anrichten, lässt der Wissenscha­ftler nicht gelten. »Kliniker sprechen von Primär- und Sekundärsc­haden. So gesehen, läge der Sekundärsc­haden bei einem wirkungslo­sen Achtsamkei­tstraining darin, dass dem Patienten in dieser Zeit nicht anderweiti­g geholfen wird. Deshalb sind Wirksamkei­tsstudien auch dann wichtig, wenn kein Primärscha­den zu erwarten ist. Hier besteht noch weiterer Forschungs­bedarf.«

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