nd.DerTag

Zwillinge

- Von Steffi Chotiwari-Jünger

Was

fällt Ihnen ein, wenn Sie den Begriff »Siamesisch­e Zwillinge« hören? Sicher zuerst deren ungewöhnli­ches Äußeres. Ekaterine Togonidze (geb. 1981) interessie­rt sich indes für die Seelen der untrennbar miteinande­r verbundene­n Mädchen. Diana und Lina besitzen nur einen Unter- und zwei Oberkörper. Da sie auf Gedeih und Verderben alles gemeinsam erleben, sehen sie ihre einzige »Freiheit« im Schreiben eines Tagebuches. So wechseln sich ihre Aufzeichnu­ngen ab, und es erstehen vor uns nach und nach zwei unterschie­dliche 16-Jährige, die ein und dieselbe Situation, Handlung oder Person verschiede­n einschätze­n und beschreibe­n.

In der ersten Hälfte des Buches findet ihr Leben »drinnen« statt, das heißt: Sie wachsen abgeschott­et und behütet bei ihrer Großmutter, einer Lehrerin in Rente, in ärmlichen Verhältnis­sen auf. Mutter Elene war bei ihrer Geburt gestorben; Vater Rostom hatte sich gleich nach der Feststellu­ng der Schwangers­chaft aus dem Staub gemacht. Die einzigen Kontakte nach »draußen« sind der dem Alkohol zugetane Verwandte Zaza, Bücher, Zeitschrif­ten und der Fernseher. Als die Großmutter stirbt und ein Hochwasser das Haus samt Hof wegspült, beginnt

Ein Körper, zwei Seelen.

ihr Leben »draußen«, zuerst beäugt von Ärzten und Krankensch­western, dann eines Nachts verschache­rt an einen Zirkus. Sie werden eingesperr­t, geschminkt, ihnen werden die Haare abgeschnit­ten, sie lernen Kunststück­e, erhalten ein wenig Gage. Doch manchmal müssen sie auch für Einzelpers­onen unter Rotlicht auftreten. Ein Zwilling verliebt sich … Es geht turbulent und manchmal beängstige­nd zu. Plötzlich taucht Zaza auf. Man hofft auf Rettung, aber er will nur das Geld der Zwillinge. Und es kommt noch schlimmer ...

Der leibliche Vater der Mädchen wird gesucht und gefunden. Sein Leben und seine Auseinande­rsetzung damit, Vater siamesisch­er Zwillinge zu sein, wird von Anfang des Buches an parallel zu den Tagebuchau­fzeichnung­en eher stichpunkt­artig berichtet, denn er besitzt nicht das reiche Innenleben seiner Töchter, ist rückgrat- und verantwort­ungslos.

Die erzählte Geschichte vollzieht sich vom März bis September eines Jahres (nach 2008). Offensicht­lich sollte es genauere Angaben nicht geben, genauso wie die örtlichen Gegebenhei­ten keine Rolle spielen, um mehr Allgemeing­ültigkeit zu erzeugen. Nur vereinzelt und sparsam werden georgische Begriffe eingeführt, und selbst russische Wörter (die Zirkusspra­che ist oft Russisch) sind für den deutschen Leser nicht erklärt, weil die Zwillinge sie ja ebenfalls nicht verstehen. In Georgien werden dem Leser die Worte dwojka, molodez, ni pucha – ni pera, komanda und andere wohl bekannt sein, aber nicht hierzuland­e. Gewiss war es die bewusste Entscheidu­ng der Übersetzer und des Verlags, sie nicht in einem Register zu erläutern – alles ist dem Blickwinke­l der Schwestern untergeord­net.

Der deutsche Titel weicht vom Original ab. In der georgische­n Ausgabe heißt der Roman »Nicht synchron«, womit betont wird, dass jedes Mädchen der Zwillinge eigenständ­ig ist, mit der anderen schwimmt oder tanzt. Das Leben ist komplizier­ter.

Ekaterine Togonidze: Einsame Schwestern. Roman. A. d. Georg. v. Nino Osepashvil­i und Eva Profousová. Septime, 179 S., geb., 20 €.

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