Georgien aus doppelter Perspektive
Die Idee kam vom Goethe-Institut, und Nino Haratischwili, die in Georgien aufgewachsen ist und inzwischen in Hamburg lebt, war begeistert: Jeweils zwei georgische und zwei deutsche Autorinnen und Autoren sollten für einen kurzen Reisebericht durch das Land im Kaukasus reisen.
Im Vorwort erzählt Nino Haratischwili, wie es war, als sie erstmals mit einer deutschen Freundin nach Tbilissi reiste. Sie wollte ihr das Land von seiner besten Seite zeigen obwohl sie doch sonst so kritisch ist. Als die Freundin in einem Hof einen an der Hauswand befestigten Stuhl ohne Sitzfläche fotografiert, versteht sie das erst nicht. Sie weiß, dass der Stuhl als Basketballkorb diente – nichts Besonderes in den prekären 90er Jahren, als sie in Georgien aufwuchs. Überall musste improvisiert werden. »Die gleichen Dinge, die gleichen Gegenstände, gar die gleichen Verhaltensweisen haben je nach Kontext eine vollkommen verschiedene Bedeutung«, überlegt sie. »Geschehnisse, Erfahrungen, Ereignisse – all das formt sich ausschließlich durch unseren Blick darauf.«
Und so ist gleich der erste Text des von Julia B. Nowikowa wunderbar mit vieldeutigen Montagen illustrierten Bandes von der Sehnsucht nach Abenteuer geprägt. Für Lucy Fricke soll es möglichst gefährlich sein, weshalb sie zusammen mit Archil Kikodze nach Tuschetien fährt. In dieser abgelegenen Bergregion, die nur über die angeblich gefährlichste Straße der Welt erreichbar ist, findet sie das raue Leben, das sie sucht. Irritiert ist sie allerdings, mit welcher Schüchternheit die Hirten sie empfangen. Es sind Männer, die dort oben keine Frauen gewohnt sind.
Archil Kikodze dagegen sieht die »Dogis«, die kleinen Denkmale für Tote, die überall in den Bergen von Tuschetien zu finden sind. Er berichtet, wie wichtig es für die Bergvölker ist, sich »einen Namen zu machen«. Wenn man sich eine Geschichte zu deinem Namen erzählt, wirst du nicht vergessen. »›Bewahrt meinen Namen!‹, soll ein noch blutjunger Tusche, der von Laken überfallen worden war, im Sterben gerufen haben, denn er wusste, dass außer seinen Mördern niemand seinen mannhaften Tod würde bezeugen können. Und diese bewahrten seinen Namen deshalb, weil sie mit denselben Wertvorstellungen aufgewachsen waren.«
Von der russischen Romantisierung Georgiens, einer Verklärung wie bei der deutschen Italienbegeisterung, erzählt Katja Petrowskaja, in Kiew geboren und wie Nino Haratischwili inzwischen in Deutschland lebend. Entlang der Georgischen Heerstraße zum Kasbek ist sie gereist, begeistert von Literatur, Land und Leuten. Fasziniert ist sie zudem von den Spuren, die Georgien in der russischen Literatur hinterlassen hat. Wie diese wahrgenommen wurden, hatte indes auch mit dem Einfluss des russischen »Imperiums« zu tun.
Wer an ganz unterschiedlichen Berichten und Reflexionen aus deutscher und georgischer Perspektive Interesse hat, für den ist das Buch eine Fundgrube. Es präsentiert ein Land im Aufbruch, wo Stalin in seinem Geburtsort Gori immer noch mit einem großen Museum gefeiert wird; ein fragiles Land mit einer überwältigend schönen Landschaft, ein Land mit langer, wechselvoller Geschichte und, wie die Autoren übereinstimmend berichten, mit großherzigen Menschen.
Georgien. Eine literarische Reise. A. d. Georg. v. Rachel Gratzfeld u. Sybilla Heinze. Vorwort Nino Haratischwili. Ill. v. Julia B. Nowikowa. Frankfurter Verlagsanstalt, 190 S., geb., 25 €.