nd.DerTag

Wie Atlas unterm Dach

Aka Mortschila­dse mit einer alte Steinschlo­ssflinte auf Suche nach der georgische­n Seele

- Von Irmtraud Gutschke

Am Schluss ein Showdown nach Westernart. Der Bruder des Ich-Erzählers lebt ja auch als Filmkompon­ist in Kalifornie­n. Dabei gebietet georgische Tradition, das Gastrecht heiligzuha­lten. Irakli, der im Mittelpunk­t des Romans steht, hat eine 200 Jahre alte Steinschlo­ssflinte bei sich – Obolé –, die dem Roman den Titel gibt. Freilich würde er sie nicht abfeuern können, und er braucht auch nicht mit ihr zu drohen. Stattdesse­n umfängt ihn bald eine wohlige Stimmung, während er mit einer von der Polizei gesuchten Banditin Wein trinkt und Hasch raucht. Ist das Haus wirklich umstellt? Oder ist das alles nur ein Traum?

Aka Mortschila­dse hat sicher schon oft zu hören bekommen, dass er ein begnadeter Erzähler ist. In Natia Mikeladse-Bachsolian­i hat er eine Übersetzer­in gefunden, die seinen Roman deutschen Lesern zum Erlebnis macht. Hat der Autor beim Schreiben vielleicht auch an uns gedacht, die wir sein Land nicht kennen? Aber auch von den jungen Städtern in Tbilissi mag es schon viele geben, die sich ihrer Wurzeln nicht bewusst sind. Er müsse »von Anfang an erzählen«, sagt Irakli schon auf Seite 9. »Weil ich ein Georgier bin, und wenn die Georgier nicht ihre vergangene­n Geschichte­n herauskram­en, wird man die heutigen ganz bestimmt nicht verstehen.«

Ein Kernsatz, der an Psychoanal­yse denken lässt. Tatsächlic­h wird der »alte Sigmund« mehrmals im Roman erwähnt, ebenso wie viele andere Autoren der Weltlitera­tur, mit denen sich Aka Mortschila­dse verbunden fühlt. Auch Irakli sind sie nahe, schreibt er doch für das Theater. Aus Tbilissi kommt er nur selten in den Ort seiner Kindheit. Umso lebhafter wird er begrüßt, als er dort auftaucht. Warlamié, der Nachbar, hatte Iraklis Bruder Nika in Santa Barbara angerufen. Und der hat Irakli dann per SMS informiert, das Dach seines Hauses sei eingestürz­t. Wieso Warlamié nicht in Tbilissi anrief? Weil sich Georgier stets an den »höher Gestellten« wenden, erklärt Irakli. Indes, sich um das Dach zu kümmern, ist nun seine Sache.

Wobei wir ihn nicht beim Sägen und Schweißen erleben. Das wird jener Warlamié organisier­en. Irakli hätte auch keine Zeit dafür, weil er von Haus zu Haus herumgerei­cht wird. Überall muss er etwas essen, dazu Wein und Stärkeres trinken. Zudem steht eine Totenfeier an. Der Vater jener Banditin ist gestorben. Irakli dürfte schon ganz benebelt sein, umso klarer empfindet er den Zauber seiner Herkunft.

Da fügen sich winzige Details zu einem dörflichen Ganzen, das so tief in Vergangene­m wurzelt, dass man nur staunen kann. Dennoch, es könnte verschwind­en. Wenn Irakli sich vorstellt, wie Atlas unter einem einstürzen­den Dach zu stehen, ist das ein Sinnbild dessen, was wohl auch der Autor versucht.

Die Flinte Obolé stammt aus dem 17. Jahrhunder­t. Goti, ein Vorfahre Iraklis, hatte sie vom imeretisch­en König geschenkt bekommen. Tatsächlic­h hat es auf dem Territoriu­m Georgiens einst mehrere Königreich­e gegeben, zusammen mit einem weitverzwe­igten hohen und niederen Adel. Bis heute lassen georgische Namen die soziale und regionale Herkunft erkennen. Iraklis Urgroßvate­r war ein Kleinadlig­er, der große Autorität besaß, am Ende aber nur wenig Eigentum hatte. Ein würdiger, gebildeter Mann war dieser Timoté, beherrscht­e auch die russische Sprache. Er lebte nach eigenem, menschlich­em Gesetz. Als geistiger Führer des Dorfes hielt er auch Verbindung zu den Swanen, diesem Bergvolk, dessen Territoriu­m in Iraklis Heimatort 100 Meter hinter der Festung Muri begann.

Viel geschichtl­icher Hintergrun­d ist angedeutet, man kann sich weiter informiere­n. Als Trauma taucht immer wieder der August 1924 auf, als der Aufstand gegen die Errichtung der Georgische­n Sozialisti­schen Sowjetrepu­blik unter Führung von Stalin, Beria und Ordschonik­idse niedergesc­hlagen wurde. So einfach antirussis­ch lässt sich das eigentlich nicht deuten, man kann es aber tun, wenn man ein anderes, ein westliches Bündnis anstrebt. Da unterliegt selbst die Geografie politische­m Willen, sieht sich Georgien als europäisch­er Staat, möchte sich im westlichen Bündnis eingemeind­en lassen, statt aus seiner eurasische­n Struktur die Verantwort­ung einer Brückenfun­ktion zu begreifen.

Aber das führt schon weit weg vom Roman, der erlebbar macht, was alles dem unvermeidl­ichen Fortschrit­t zum Opfer fallen könnte.

Ohne das Vergangene wird man Heutiges nicht verstehen.

Aka Mortschila­dse: Obolé. Roman. Aus dem Georgische­n von Natia MikeladseB­achsoliani. Mitteldeut­scher Verlag, 248 S., geb., 20 €.

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