Fanatiker am Spielfeldrand
Seit 40 Jahren verpasst John Westwood kein Spiel des Portsmouth FC. Dass sein Klub heute nur noch in Liga drei spielt, findet er sogar gut
John P.F.C. Westwood hat sich die Namen Portsmouth, Football und Club in den Pass eintragen lassen. Besuch bei einem Besessenen.
Er sieht aus wie ein Zirkusclown und folgt seinem Fußballverein überallhin. Der Spitzenfußball interessiert John Westwood nicht mehr, weil der nicht mehr der Arbeitersport von einst ist – und nichts für Machos. Manche nennen sich Fans, manche lieber Ultras. John Westwood ist wohl eine Mischung aus beidem. Fanatisch ist der Engländer in jedem Fall. Immerhin heißt er seit 1989 amtlich John Portsmouth Football Club Westwood: »Das hat mich nur ein paar Pfund gekostet und war viel einfacher als ich erwartet hatte«, lacht der 55-Jährige als er »nd« im Obergeschoss seiner Buchhandlung im Städtchen Petersfield begrüßt.
An die Bürowand hat er Zeitungsartikel gehängt, die von ihm handeln, dazu Fahnen seines Vereins Portsmouth FC, den die Fans auch Pompey nennen. Wie der Spitzname zustande kam, ist unklar, ob auch nur eine der vielen Geschichten darüber wahr ist, weiß niemand so genau. Zweimal, 1949 und 1950, wurde der Klub von der Südküste englischer Meister. Ebenso zweimal Sieger des traditionsreichen FA Cups: zuletzt 2008. John Westwood war dabei, als der Klub vor zehn Jahren im Wembleystadion triumphierte. »Dieser Titel ist eine meiner schönsten Erinnerungen mit Pompey«, sagt er.
Seitdem ging es mit dem Klub bergab. Fast ging Portsmouth pleite, sportlich folgte der Abstieg dem Abstieg. Heute kickt Pompey in der »League 1«, der dritten Profiliga Englands. John Westwood hat den Verein nie aufgegeben, der ist schließlich sein Leben – ganz im Ernst.
»Wollen Sie eine Tasse Tee?«, fragt Westwood. Ja. Sich Storys von Englands verrücktestem Fußballfan anzuhören, bedeutet, sich Zeit zu nehmen. Diese Begegnung wird am Ende zwei Stunden dauern. Wie fast jeden Tag trägt John Westwood auch heute Zylinder und einen geflickten Anzug – in Royal blue, die Hauptfarbe des Klubs. Auf seinen Cowboystiefeln prangt das Vereinswappen.
Wenn er zum Heimspiel ins Stadion Fratton Park zieht, kleidet er sich noch exzentrischer. Zum Kostüm gehören dann eine blaue Perücke, ein hoher Hut, eine Weste sowie einen karierte Hose und Clownsschuhe. Mit den Jahren hat er sich so eine zweite Identität geschaffen. »Ich war nicht immer so. Als Kind, bin ich wie jeder andere auch nur mit Schal und Kappe ins Stadion gegangen. Hut und Perücke haben mir irgendwann Bekannte gegeben«, erinnert er sich.
Eines Tages hätten Kinder zu ihm gesagt: »Du siehst aus wie ein Clown!« Prompt bestellte er sich Clownschuhe im Internet. Die Weste nähte ihm die Frau eines Kumpels, und die Ho- se »passte einfach gut dazu. Aber ich habe alles später noch beschnitten, sodass man meine Tattoos sehen kann«, sagt er. Er hat 60 über seinen ganzen Körper verteilt. »Und alle haben mit Pompey zu tun. Außer die Gesichter meiner Kinder und meiner Ex-Frau.« Wenn man denkt, extremer könnte der Look nicht sein, öffnet Westwood seinen Mund: Auf seine Vorderzähne hat er sich die Buchstaben PFC gravieren lassen.
In Petersfield wohnt Westwood in der Nähe zweier Städte, die seit Jahrzehnten eine herzliche Abneigung füreinander pflegen: Portsmouth und Southampton. »Diese Rivalität ist die größte des Landes«, behauptet Westwood. Nicht nur wegen des Fußballs, sondern auch, weil Portsmouth ein »Arbeiterklassehafen« sei, dagegen Southampton ein reicher Handelshafen. »Zwischen uns gab es schon immer Reibereien«, sagt er und nennt die Fans des Rivalen einfach nur Scum. Das steht im Englischen für Dreck, ist aber auch die Abkürzung der ehemaligen Gewerkschaft Southampton Company of Union Men.
Der prominenteste Fans Englands stammt nicht aus einer besonders fußballbegeisterten Familie. »Meine Lieblingsvereine waren die großen Nummern der 60er und 70er, wie Leeds United oder FC Liverpool, weil ihre Spiele im Fernsehen übertragen wurden«, erklärt er. Eines Tages habe ihn ein Kumpel gefragt, wieso er nicht den Verein seiner eigenen Stadt unterstütze, und ihn mit in den Fratton Park genommen. Es war im Dezember 1976. 10 000 Leute kamen am zweiten Weihnachtstag zu einem Drittligaspiel gegen Brighton. »Die Stimmung war so beeindruckend, danach wusste ich, dass Pompey mein Verein fürs Leben sein wird«, sagt Westwood heute.
Seitdem hat er in mehr als 40 Jahren im Grunde kein einziges Spiel des Vereins verpasst, egal ob daheim oder auswärts. »Durch Pompey habe ich England und die Welt entdeckt: Ich bin dem Klub nach Italien, Skandinavien, Schottland, Portugal und sogar nach Nigeria, Amerika und Hongkong auf den Sommertourneen gefolgt«, erzählt er begeistert. »Aber ich will ehrlich sein: Bei einer Partie habe ich es nicht ins Stadion geschafft, wegen der Polizei. Ich war in eine Randale geraten.« Dabei ist Westwood kein Hooligan. Früher habe er zwar mit den Hools der lokalen »6.57 Crew« abgehangen. »Aber mich prügeln wollte ich nicht! Ich wollte ja nicht riskieren, Pompey-Spiele zu verpassen. Hätte ich kämpfen wollen, wäre ich in einen Boxklub eingetreten.«
In einer Ära, in der die englische Premier League mittlerweile zur weltweiten Show für die Reichen geworden ist, spielt John Westwood die Karte des Widerstands: »Die erste Li- ga schaue ich mir nicht mehr an. Die Champions League auch nicht. Immer sind die Gleichen vorn, das finde ich langweilig.« Immer mehr Freunde würden ihn heute zu den unterklassigen Spiele begleiten, um die verlorene Authentizität des Fußballs wiederzufinden, sagt er. Nur einmal konnte ihn in den vergangenen Jahren auch die Premier League begeistern, als sich Leicester City 2016 sensationell zum Meister krönte. »So sollte es jede Saison sein, dass jeder Klub eine Chance hat, den Titel zu holen«, so Westwood.
Im Heimatland des Fußballs sind die Karten in der ersten Liga für den Normalbürger kaum mehr bezahlbar. Dafür sollen neue Zuschauer von der anderen Seite der Welt erobert werden. »Sie haben Fußball zu einem Theaterstück gemacht. Aber ein The-
aterstück muss man proben. Im Fußball geht es um Leidenschaft und Improvisation«, erregt er sich. Sein Bild vom Fußballfan passt nicht in die Marketingstrategien von heute und auch nicht in ein modernes Geschlechterbild. »Die wollen den Sport als Familiending verkaufen. Klar, es gab immer Familien auf den Tribünen. Aber Fußball ist vor allem ein Macho-Ding – was für Männer.«
Er nennt es »gesellschaftliche Hygienisierung«. Die nervt ihn, vor allem im Stadion. Seit der Hillsborough-Katastrophe 1989 mit 96 Toten und 766 Verletzten darf in englischen Arenen niemand mehr stehen. Westwood nennt das »nicht nur dumm, sondern auch gefährlich«: »Früher saßen nur die Familien. Die Jungs standen auf einer anderen Tribüne. Heute wirst du zufällig irgendwo hingesetzt und kannst neben einem tätowierten, zwei Meter großen Wüstling sitzen – ohne Chance, auf einen anderen Platz auszuweichen, wenn er wütend wird.«
Ohnehin werde heute alles kontrolliert: »Dieses Land ist zum Polizeistaat geworden, alles wird beobachtet. Sie glauben, die Gewalt herrscht im Stadion, doch auf den Straßen ist sie viel schlimmer. Die kämpfen gegen den falschen Leute. Ich werde oft von der Polizei kontrolliert, nur weil ich anders aussehe. Aber gefährlich bin ich nicht! Laut vielleicht, aber nicht gefährlich. Aber so bekommen sie ihre Statistiken.« Wie ein gewaltbereiter Fußballan- hänger wirkt John Westwood wahrlich nicht. Abgrenzen will er sich von solchen Fans aber keinesfalls: Im Gegenteil: Er sagt, er könne sie verstehen. Denn Gewalt gehöre zur Fußball-DNA – besonders in Großbritannien. »Die Engländer haben ein Imperium aufgebaut. Kämpfen, einmarschieren, das ist Teil unserer Identität. Das Establishment behandelt Hooligans wie Kriminelle, aber wenn morgen der Dritte Weltkrieg ausbricht, werden die Hools an der ersten Linie stehen.«
Westwood glaubt auch, das Land steuere in eine dunkle Zukunft: »Alles hat sich in den letzten 20 Jahren komplett verändert. Was den normalen Mann von der Straße interessiert, ist völlig überteuert: Bier, Kippen, Trikots, Programmhefte«, schimpft er zwischen zwei Zügen an der E-Zigarette. »Echte Zigaretten kann ich mir nicht mehr leisten. Für die habe ich irgendwann 300 Pfund im Monat ausgegeben. Heute ist es kaum ein Zwanni, und die Dinger sollen ja auch gesünder sein, sagt man.«
Schuld an allem sei das Establishment, sagt Westwood. Als Mann der Arbeiterklasse hat er wenig übrig für Politiker. »Trotzdem gehe ich wählen, denn man muss wählen gehen«, sagt er. Wen?: »Konservativ. Die Sozialisten könnte ich nie wählen. Nicht nur, weil ich ihre Ideen nicht teile. Sondern auch, weil sie rot wie Southampton sind!« Da lacht er mal wieder.
Fußballfanatiker sein heißt Opfer bringen. Seit 21 Jahren ist Westwood geschieden. Seine Frau habe probiert, ihn zu ändern, sagt er, doch seine Leidenschaft für Portsmouth FC war viel zu stark. »Du hast nur ein Leben: Du musst es ganz leben.«
Wenn er nicht im Fanblock steht, findet man ihn bei seiner anderen Liebe: Büchern. Vor 60 Jahren eröffnete sein Vater den Bookshop in der Chapel Street. Seit vier Jahrzehnten arbeitet John dort. Erst als Azubi, heute als Boss. Obwohl er selbst kaum im Internet surft, hat er irgendwann auch einen Onlineshop eröffnet. Seine Spezialität sind alte Werke. »Meine Kunden kommen aus der ganzen Welt – meistens reiche Büchersammler. Genau wie Fußball kann sich der normale Bürger auch antiquarische Bücher nicht mehr leisten.«
Trotzdem will John Westwood keinen Laden wie alle anderen führen. »Die modernen Buchhandlungen sind doch alle gleich. Das ist so wie mit den Stadien in der Premier League.« Also bietet Westwood auch Ausgaben aus zweiter Hand an, die man schon ab 50 Pence kaufen kann. Ein kleiner Akt des Widerstandes gegen die Digitalisierung der Literatur. »Ich glaube, Papierbücher werden niemals untergehen. Denn nichts ist besser als die Erfahrung, ein Buch zu lesen«, sagt er. »Außer vielleicht – Fußball!«
»Ich werde oft von der Polizei kontrolliert, nur weil ich anders aussehe. Aber gefährlich bin ich nicht! Laut vielleicht. Aber nicht gefährlich. John Westwood