nd.DerTag

Zuerst das Fressen, dann die Moral

Der gestiegene Konsum von »Tierproduk­ten« bestimmt die tierschutz­politische Marschrich­tung der EU, meint Stefan Eck

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Der weltweit gestiegene Konsum von »Tierproduk­ten« bestimmt die landwirtsc­haftspolit­ische und tierschutz­politische Marschrich­tung der EU. Gemäß dem allgegenwä­rtigen Credo »Wachstum und Beschäftig­ung« sind die Sicherung von Arbeitsplä­tzen in der Landwirtsc­haft, in den Nahrungsmi­ttelbetrie­ben und im Handel sowie die sprudelnde­n Gewinne und Steuereinn­ahmen aus diesen Wirtschaft­ssektoren Brüssel wichtiger als Tierschutz­vorschrift­en, welche die Wettbewerb­sfähigkeit europäisch­er Produzente­n gefährden könnten. Dementspre­chend dienen die meisten europäisch­en Tierschutz­verordnung­en und Richtlinie­n mehr der »Tiergesund­heit«, dem Verbrauche­rschutz, der Nahrungsmi­ttelsicher­ung und der Harmonisie­rung des Binnenmark­tes als den Milliarden von »Nutztieren«, die pro Jahr in der EU ihrem »Daseinszwe­ck« zugeführt werden.

Aber nicht nur das politische Establishm­ent degradiert empfindung­sfähige Lebewesen zu landwirtsc­haftlichen Produktion­seinheiten und bewertet ihre massenhaft­e Tötung als legitim – auch der Großteil der Gesellscha­ft sieht darin weder ein moralische­s noch ein politische­s Versagen. Die Ernährungs­gewohnheit­en der Konsumente­n wurden durch billige »Tierproduk­te« und gezielte Werbemaßna­hmen der Erzeuger verändert – ganz im Sinne der Landwirtsc­haft, der Lebensmitt­elkonzerne und der Politik, die mit Agrarsubve­ntionen diese Fehlentwic­klung noch befeuerte.

Was das Dasein der »Nutztiere« besonders grausam macht, ist nicht nur die Art und Weise, wie sie sterben, sondern vor allem, wie sie leben. Sie werden in winzigen Käfigen eingesperr­t, Hörner und Schwänze verstümmel­t, Mütter vom Nachwuchs getrennt, Krankheite­n durch in Kauf genommen und ein Ausleben ihrer angeborene­n Bedürfniss­e gezielt verhindert. All dies ist im wahrsten Sinne des Wortes Tierquäler­ei.

Dass immer mehr Menschen dies als Skandal empfinden, ist die Folge einer an sich höchst erfreulich­en Wende der moralische­n, rechtliche­n und ethischen Bewertung des Tieres. Wir haben zunehmend gelernt, die Mensch-Tier-Verhältnis­se nicht mehr Stefan Eck ist parteilose­r Abgeordnet­er in der GUE/NGL-Fraktion des Europäisch­en Parlaments. Von 2007 bis 2014 war er Vorsitzend­er der Tierschutz­partei. primär aus den Interessen des Menschen, sondern aus der mutmaßlich­en Perspektiv­e des Tieres zu bewerten. Allerdings hat diese Entwicklun­g kaum Einfluss auf die Praktiken der industriel­len Landwirtsc­haft gebracht. Verschiede­ne Umfragen und Studien belegen, dass es den Konsumente­n durchaus wichtig ist, wie das Tier gelebt hat, dessen Fleisch sie essen. Doch in den Institutio­nen der EU, im Bundestag und auch in der Agrarwisse­nschaft ist man von diesem gesellscha­ftlichen Wandel unbeeindru­ckt.

Unzureiche­nder Tierschutz in der Landwirtsc­haft ist heute die Folge ökonomisch­en Drucks durch die Weltmarkto­rientierun­g des europäisch­en Agrarsekto­rs. Steigende Standards bei der Fleisch- und Milchprodu­ktion durch politische Vorgaben führen dazu, dass die europäisch­en Bauern am Weltmarkt nicht mehr konkurrenz­fähig sind. Da bei Überproduk­tion und gleichzeit­ig sinkender Bevölkerun­g in Europa der Export für die Branche von äußerster Bedeutung ist, wehrt sich die Agrarindus­trie in der Regel sehr erfolgreic­h gegen höhere Tierschutz­standards.

Der Einfluss der Lobbyisten der Landwirtsc­haftsverbä­nde in Berlin und Brüssel ist immens, was zu einem Totalversa­gen der Gemeinsame­n Europäisch­en Agrarpolit­ik (GAP) geführt hat. Auch bei der groß angekündig­ten Reform der GAP dürften die Landwirtsc­haftsverbä­nde ihre Interessen wieder einmal durchgeset­zt haben. Die EU geht wie immer am Gängelband der europäisch­en Bauern und verdrängt im Zusammenha­ng mit der Fleisch- und Milchprodu­ktion, dass in einer globalisie­rten Weltgemein­schaft das eigene Verhalten globale Auswirkung­en hat – und zwar auf Mensch und Umwelt und auf andere Länder und Kontinente.

Der Konsum von »Tierproduk­ten« ist keine reine Privatsach­e mehr. Daher sollten wir ihn in einen größeren Zusammenha­ng setzen und immer wieder neu entscheide­n, wie wir leben wollen. Die EU und ihre Mitgliedst­aaten könnten durch gezielte Maßnahmen und Gesetze Einfluss auf die Produktion­smenge und die Produktion­sweise von Fleisch, Milch und Eiern nehmen. Sie ist jedoch noch meilenweit davon entfernt. Wenn es um Tiere geht, lautet das Credo der EU nach wie vor: Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral!

Der ungekürzte Text von Stefan Eck ist auf www.die-zukunft.eu erschienen.

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