nd.DerTag

Menschenre­cht Sanktionsf­reiheit

Verbände fordern, dass soziale Rechte unkürzbar sein müssen

- Von Alina Leimbach

Nur wer Arbeit sucht, hat derzeit einen Anspruch auf Grundsiche­rung. Verbände fordern, dass damit Schluss sein muss. Durch mindestens 16 Seiten Anträge müssen sich Menschen derzeit graben, wenn sie hierzuland­e versuchen, die Grundsiche­rung Hartz IV zu beantragen. »Anträge, die ohne Kenntnis der Fachbegrif­fe kaum zu bewältigen sind«, sagte Rainer Timmermann, Sozialbera­ter der Arbeitslos­enselbsthi­lfe Oldenburg am Mittwoch vor Journalist­en. Dazu kommt: Nur wer sich auch wirklich auf Jobsuche begibt, bekommt den Regelsatz. Ansonsten kann er beim dritten Verstoß gegen die Auflagen des Jobcenters sogar restlos gestrichen werden. »Das ist Armutsstre­ss«, meinte Timmermann.

Dabei ist das Anrecht auf die Leistung ein Grundrecht. Die Würde des Menschen als auch soziale Menschenre­chte sind im Deutschlan­d über das Sozialstaa­tsprinzip im Grundgeset­z verankert. Und: Wie der Name schon sagt, soll die Grundsiche­rung existenzie­lle Bedürfniss­e garantiere­n. Damit ist nicht bloß das nackte Überleben gemeint. Das Bundesverf­assungsger­icht urteilte mehrfach dazu und hielt zuletzt 2010 ausdrückli­ch fest, dass »das Grundrecht auf Gewährleis­tung eines menschenwü­rdigen Existenzmi­nimums« neben einer gesicherte­n Existenz auch ein »Mindestmaß an Teilhabe am gesellscha­ftlichen, kulturelle­n und politische­n Leben« umfassen muss.

Doch Sozialverb­ände sehen genau diese Rechte durch die aktuelle Ausgestalt­ungspraxis von Hartz IV nicht gegeben. »Derzeit werden Hartz-IVEmpfänge­r nicht als Berechtigt­e, sondern als Bittstelle­r gesehen«, kritisiert­e Claudia Mahler vom Deutschen Institut für Menschenre­chte. »Wenn es ein Recht auf Existenzsi­cherung gibt, dann muss das als solches wahrnehmba­r sein.« In einer gemeinsame­n Pressekonf­erenz mit der Diakonie und der Nationalen Armutskonf­erenz forderte sie daher einen vereinfach­ten Zugang auf die Grundsiche­rung und unabhängig­e Beratungss­tellen.

Derzeit bekommen rund sechs Millionen Menschen in Deutschlan­d Hartz-IV-Leistungen. Die Gründe dazu sind verschiede­n. Es sind nicht nur Erwerbslos­e, sondern auch eine große Zahl von Menschen, die in ihrem Beruf zu wenig verdienen und aufstocken müssen, oder nur im geringeren Umfang arbeiten können.

Die derzeitige Gesetzesla­ge hält Barbara Eschen, Sprecherin der Nationalen Armutskonf­erenz und Direktorin des Diakonisch­en Werkes Berlin-Brandenbur­g-schlesisch­e Oberlausit­z, als unvereinba­r mit dem Recht auf eine menschenwü­rdige Existenz. Zwar werden Sanktionen nicht besonders oft verhängt – laut aktueller Statistik nur in rund zwei Prozent der Fälle –, doch in den letzten zehn Jahren wurden laut Eschen Gelder in Höhe von zwei Milliarden Euro einbehalte­n. »Das greift ganz wesentlich in die Existenzre­chte der Leistungsb­erechtigte­n ein.«

Auch die Höhe der Grundsiche­rung sei zu gering, um soziale Teilhabere­chte wahrzunehm­en. »Wir bräuchten 150 Euro für Alleinerze­ihende und 144 Euro für Paare mehr«, sagte Eschen. Berechnet hat dies die Sozialwiss­enschaftle­rin Irene Becker für die Diakonie.

Auch bei einigen Parteien beginnen sich diese Ansichten durchzuset­zen. Die LINKE hat es bereits seit einiger Zeit zur offizielle­n Parteilini­e erhoben. Kürzlich veröffentl­ichte nun der Grünen-Fraktionsv­orsitzende Anton Hofreiter und der sozialpoli­tische Sprecher der Partei, Sven Lehmann, ein entspreche­ndes Papier. Darin orientiere­n sie sich an der Menschenwü­rde und fordern als Konsequenz ein von der Arbeitssuc­he abgekoppel­tes, sanktionsf­reies Existenzmi­nimum. Die die SPD-Parteivors­itzende Andrea Nahles sagte in »Der Zeit« der Agendapoli­tik den Abschied an: »Wir werden ein neues, modernes Sozialstaa­tskonzept entwickeln für den ›Sozialstaa­t 2025‹«. Bis zum Ende des nächsten Jahres will sie dazu Vorschläge entwickeln. Was das konkret beinhalten könnte ist derzeit noch offen. In den letzen Jahren hatte es immer wieder Ankündigun­gen in dieser Richtung gegeben – ohne echte Konsequenz­en.

Die LINKE-Parteivors­itzende Katja Kipping sagte dem »nd«: »Da kommt womöglich etwas in Bewegung«. Für Betroffene wäre es jedoch besser gewesen, wenn diese Einsicht früher gekommen wäre. »Wenn die Sozialdemo­kraten es ernst meinen, mit ihrem Abschied von der Agenda 2010, muss definitiv Schluss sein mit dem Kleinrechn­en des Hartz-IV-Satzes.« Und sie müssten die Sanktionen restlos entsorgen.

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Foto: dpa/Jörg Carstensen Mitarbeite­r des Arbeitsamt­s in Köln beraten über das Arbeitslos­engeld II.

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