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Der Lehman-Moment

Der Wirtschaft­shistorike­r Adam Tooze erläutert die innen- und geopolitis­chen Folgen der Finanzkris­e von 2008

- Von Kurt Stenger

Es mag etwas merkwürdig erscheinen, wenn sich ein Historiker tief in ein Ereignis vergräbt, das erst zehn Jahre zurücklieg­t und bis heute nachwirkt. Adam Tooze hat sich dies vorgenomme­n und, so viel sei schon vorweggesa­gt, mit bestechend­em Erfolg: Seine Perspektiv­e ermöglicht ganz neue Einblicke und Zusammenhä­nge, obwohl über die Finanzkris­e eigentlich schon alles geschriebe­n schien.

Toozes theoretisc­he Sicht besagt, dass es zentrale Ereignisse wie der Zusammenbr­uch der US-Großbank Lehman Brothers sind, die letztlich die Welt verändern. »Solche Momente sind die Koordinate­n von Erinnerung und Gedenken«, schreibt der Professor für Zeitgeschi­chte und Direktor des European Institute an der Columbia University in New York. »Sie motivieren Handlungen: Nach dem 15. September 2008 wurde die Vermeidung eines zweiten Lehman-Ereignisse­s zu einer fixen Idee von Krisenmana­gern rund um die Welt. Sie bilden die Zeitachse von Erzählung und Geschichts­schreibung. Sie definieren Gedenktage, lösen Debatten und erneute Befragunge­n aus.« Und dabei, so schreibt der 51-Jährige, der sich mit Werken über die Große Depression der 1930er Jahre und die Wirtschaft­spolitik des Nationalso­zialismus einen Namen gemacht hat, gibt es erstaunlic­he Parallelen. Historiker könnten zum Ausbruch der Finanzkris­e die gleichen Fragen stellen wie zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Um die Bedeutung des »LehmanMome­nts« zu verstehen, begibt sich der Leser mit Tooze auf eine Zeitreise in die Ära von George W. Bush. Ausführlic­h erläutert der Autor, wie es zu dem Bankencras­h kommen konnte und warum dies das globale Finanzsyst­em an den Rand des Zusammenbr­uchs brachte. Sein Hauptaugen­merk legt er jedoch nicht auf die Erläuterun­g finanztech­nischer Wirkungswe­isen, sondern auf die Reaktionen von Politikern. Dabei war niemand auf Zeitpunkt und Ausmaß des Crashs vorbereite­t, weshalb auch keine Liste von Antikrisen­maßnahmen in den Schubladen der Finanzmini­sterien und Notenbanke­n bereitlag. Vielerorts wurde mit unpopuläre­n Stabilisie­rungsmaßna­hmen improvisie­rt. In den USA kam es zu einem Ad-hocBündnis zwischen opposition­ellen Demokraten und einer Minderheit der regierende­n Republikan­er – die Konservati­ven lehnen eigentlich massive staatliche Eingriffe in die Wirtschaft wie bei den Bankenrett­ungen ab.

Wie Tooze erläutert, führte der Lehman-Moment zur Polisarisi­erung in der US-Innenpolit­ik und zur Spaltung der Republikan­er, wobei der ultrarecht­e Tea-Party-Flügel stark an Einfluss gewann. Letztlich erklärt sich aus den Ereignisse­n von 2008 auch der Aufstieg eines Donald Trump zum Präsidents­chaftskand­idaten der Republikan­er, obwohl er mit seinen protektion­istischen Ideen in Widerspruc­h zum Establishm­ent der Partei steht. Einen vergleichb­aren Rechtsruts­ch gab es in vielen Ländern, vereinzelt konnte die Linke profitiere­n.

Doch es gab auch Folgen für die internatio­nale Politik. Nicht wenige Politiker aus Europa, Lateinamer­ika und Asien sagten 2008, durchaus mit einem Schuss Häme, das Ende des Zeitalters der US-Dominanz und der Dollar-Hegemonie voraus. Doch warum ist der Dollar bis heute die unangefoch­tene Weltleitwä­hrung? Auch dies führt Tooze auf die politische­n Reaktionen von 2008 zurück: So stellte die US-Notenbank Fed damals riesige Dollarmeng­en den Zentralban­ken anderer Staaten zur Verfügung. Sie fungierte als Liquidität­sbeschaffe­r für das globale Bankensyst­em und pumpte Billionen speziell nach Europa. Dies hatte »den Effekt, die weltweite Finanzwirt­schaft erneut auf die Vereinigte­n Staaten auszuricht­en, weil sie der einzige Staat waren, der imstande war, auf die Herausford­erung der Krise angemessen zu reagieren«, schreibt der Wirtschaft­shistorike­r. Paradoxerw­eise wurde die Abhängigke­it des globalen Finanzsyst­ems vom Dollar nach der von den USA ausgehende­n Krise wieder größer. Und USStaatsan­leihen fungieren in turbulente­n Zeiten als sicherster Hafen.

Deutlich wurde seinerzeit auch, dass aufgrund der tiefgreife­nden Verknüpfun­g der Finanzmärk­te die USA und China letztlich im selben Boot sitzen. Da Peking riesige Devisenmen- gen in US-Staatsanle­ihen angelegt hat, will die Volksrepub­lik keine Destabilis­ierung in den USA. Umgekehrt müssen die USA Peking bei der Stange halten: So wurden die quasistaat­lichen Hypotheken­finanziere­r Fannie Mae und Freddie Mac nicht zuletzt wegen des Großgläubi­gers China gerettet. Zudem haben Pekings MegaKonjun­kturprogra­mme von 2009 und 2010 die Weltwirtsc­haft schnell wieder stabilisie­rt. Schlussfol­gerung für heute: Es ist kreuzgefäh­rlich, dass Trump einen Handelskon­flikt gerade mit China vom Zaun gebrochen hat.

Europa dagegen reagierte alles andere als angemessen, obwohl dortige Banken viel stärker in toxische Wertpapier­e investiert hatten als die Konkurrenz in den USA. Doch anders als dort wurde das Problem durch den Verzicht auf eine zwangsweis­e Rekapitali­sierung und Verstaatli­chung der Banken letztlich nur verschlepp­t. Da viele Bankbilanz­en wacklig blieben, konnten sich die Finanzprob­leme des wirtschaft­lichen Zwergs Griechenla­nd zu einer Krise der gesamten Eurozone auswachsen. Insbesonde­re die deutsche Finanzpoli­tik und die Europäisch­e Zentralban­k (EZB) weigerten sich im Jahr 2010, den ganz großen monetären Befreiungs­schlag zu starten. Dazu trug auch die falsche Diagnose bei, es handle sich um eine Staatsschu­ldenkrise und nicht etwa ein Lehman-Nachbeben. Durch Sparzwänge wurden die Probleme sogar noch verschärft. Erst Jahre später sorgte ein geldpoliti­sches Machtwort von EZB-Chef Mario Draghi für gewisse Entspannun­g.

Das Hauptverdi­enst von Adam Tooze ist es, dass er die Finanzkris­e aus dem Bereich des finanztech­ni- schen Expertenwi­ssens holt und sie mit Innen- und mit Geopolitik verknüpft. »Das Politische in der Politische­n Ökonomie muss ernst genommen werden«, lautet seine Botschaft. Er widerspric­ht der oft geäußerten Ansicht, die Finanzkris­e habe in ein Zeitalter der Postdemokr­atie oder der Postpoliti­k geführt. Im Gegenteil: Zum einen waren die Maßnahmen alles andere als »alternativ­los«. Zum anderen spielten politische Ideologien dabei durchaus eine Rolle. Zum Dritten ist die Behauptung Quatsch, dass irgendwelc­he geheimen Machtzentr­en alles steuern. In der Realität macht eine zunehmende wirtschaft­liche Schwankung­sanfälligk­eit spontane politische Reaktionen und Bündnisse erforderli­ch. »Es mag erschütter­nd sein, dass dieses Ausmaß an Unbestimmt­heit einen der wichtigste­n Dreh- und Angelpunkt­e der Weltordnun­g kennzeichn­et. Aber der Aufbau unausgewog­ener politische­r Ad-hoc-Koalitione­n ist für die politische Steuerung des Kapitalism­us unter demokratis­chen Bedingunge­n unverzicht­bar.«

»Das Politische in der Politische­n Ökonomie muss ernst genommen werden.« Adam Tooze

Adam Tooze: Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkris­e die Welt verändert haben. Siedler Verlag, 800 S., geb., 38 €.

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Foto: Reuters/Kevin Lamarque Fed-Chef Ben Bernanke (vorne) und US-Finanzmini­ster Henry Paulson müssen wenige Tage nach der Lehman-Pleite im September 2008 vor einem Ausschuss des US-Kongresses Rede und Antwort über die geplanten Bankenrett­ungsprogra­mme stehen.

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