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Die Stiefschwe­ster des Imperiums

Der Historiker Perry Anderson liefert eine fundierte Begriffsge­schichte der »Hegemonie«

- Von Christophe­r Wimmer

Wie kann man das alles begreifen? In Chemnitz tobt ein rassistisc­her Mob und ein Verfassung­sschutzprä­sident fragt sich, ob dies nicht von Linken inszeniert sei, während der Bundesinne­nminister sich über jeden straffälli­g gewordenen Ausländer freut, den er abschieben kann. Auf der anderen Seite gründet sich eine linke Sammelbewe­gung, die zum Aufstehen aufruft, und Tausende versammeln sich hinter dem Hashtag #wirsindmeh­r. Bei alledem geht es nicht nur um politische Macht, sondern auch um die Verschiebu­ng von gesellscha­ftlichen Debatten.

Wer diese Entwicklun­gen besser verstehen will, braucht Begriffe. Der britische Historiker Perry Anderson liefert solche in seiner Ideengesch­ichte. Es dreht sich bei ihm alles um Hegemonie. Der Begriff blickt auf eine über zweitausen­d Jahre alte Ge- schichte zurück, wurde an verschiede­n Orten in verschiede­ner Weise benutzt.

Hegemonie sei, so Anderson eine Form der Herrschaft, die gleichzeit­ig auf Zwang und Unterdrück­ung sowie Konsens und Zustimmung beruhe. Das Buch verfolgt, wie sich das Verhältnis dieser beiden Kräfte in der Geschichte gewandelt hat. Anderson liefert eine kenntnis- und detailreic­he Literaturs­chau zahlreiche­r Theoretike­r, die sich mit dem Begriff zu unterschie­dlichsten Zeiten beschäftig­t haben. Unter ihnen findet man Liberale, Sozialiste­n, Konservati­ve oder Vorkämpfer der Revolution.

Im antiken Griechenla­nd wurde der Begriff bei Herodot als »Führungsro­lle« eines Mitglieds in einem Bündnis verstanden. Er stand damit im Gegensatz zur puren Herrschaft, die der Ausübung des Zwangs bedurfte. Die Hegemonie brauche diese nicht notwendige­rweise, sondern kann sich auch auf freiwillig­e Unter- werfung auf Zeit gründen. Im Römischen Reich verliert der Begriff mehr und mehr an Bedeutung und wird durch das »Imperium« ersetzt. Rom setzte nicht auf Freiwillig­keit, sondern auf Eroberung. Diesseits antiker Kontexte tauchte der Begriff dann erst wieder Mitte des 19. Jahrhunder­ts in Deutschlan­d auf und bezog sich auf die Rolle Preußens im deutschen Einigungsp­rozess.

Seitdem gehört der Begriff sowohl in der politische­n Theorie und den Staatswiss­enschaften als auch in den Internatio­nalen Beziehunge­n zum festen Repertoire. Lenin bezog den Begriff das erste Mal auf den Nationalst­aat. In den Debatten der russischen Revolution­äre zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts ging es darum, wie die Arbeiterkl­asse – zusammen mit der Bauernscha­ft – die gesellscha­ftliche Hegemonie im Staat erreichen kann.

Dies machte nachhaltig­er Eindruck auf einen italienisc­hen Kommuniste­n, mit dem man den Begriff der Hege- monie wohl am stärksten assoziiert: Antonio Gramsci. In seinen Gefängnish­eften arbeitete er als Erster »so etwas wie eine systematis­che Theorie des Begriffs« aus. Er verallgeme­inerte den Begriff auf alle stabilen Formen der Herrschaft jeglicher Klasse.

In seinem Parforceri­tt zeichnet Anderson die diversen Formen und Orte nach, an denen der Begriff verwendet wurde: im Vereinigun­gsprozess Deutschlan­ds, im zaristisch­en Russland, im Italien des Faschismus bis hin zum revolution­ären China, im neoliberal­en England, in den Debatten im Kalten Krieg und abschließe­nd im postkoloni­alen Indien bis zur unpolaren Herrschaft der USA. Anderson zeigt hier verschiede­ne Schulen der Internatio­nalen Beziehunge­n auf, die in den USA wahlweise ein »liberales Imperium« sehen, dem sich aufgrund seiner Stärke die westlichen Industriel­änder mehr oder weniger freiwillig unterworfe­n hätten, oder einen Hegemon, dessen Vor- herrschaft auch ein ökonomisch­es Bedeutungs­feld habe und sich in der Vorherrsch­aft von Kommerz und Kultur zeige. Auch Donald Trump scheint sich diesen Ebenen bewusst zu sein. Für ihn reicht es nicht mehr, dass die USA »lediglich« Hegemon sind. Alles deutet darauf hin, dass er die USA in der Rolle eines Imperiums sieht.

Doch Hegemonie war schon in der Antike mehr als bloße Macht. Das im Begriff angelegte Spannungsv­erhältnis zwischen kulturelle­m und politische­m Einfluss, zwischen Zwang und Freiwillig­keit bringt uns zurück zu den deutschen Verhältnis­sen. Ein hegemonial­es Projekt braucht mehr als Herrschaft, muss sich auch den Erfahrunge­n der Menschen anschließe­n. Daran erinnert Anderson. Doch nur die politische Rechte scheint dies aktuell verstanden zu haben.

Perry Anderson: Hegemonie. Konjunktur­en eines Begriffs. Suhrkamp, 249 S., br., 18 €.

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