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Horror in Perfektion

Die Serie »Spuk in Hill House« mischt Familiendr­ama mit Gothic-Grusel

- Von Jan Freitag Verfügbar auf Netflix

Der perfekte Moment des Horrorfilm­s geht aus Sicht des Altmeister­s John Carpenter ungefähr so: Wenn man das Grauen besonders erwartet, lässt es garantiert solange auf sich warten, bis eine Entspannun­g eintritt, die dann umso brutaler zerschlage­n wird. Den perfekten Moment des Horrorfilm­s kostet daher kaum jemand so aus wie Sheryl, wenn die Bestatteri­n der Netflix-Serie »Spuk in Hill House« ab heute einen Leichnam fürs Begräbnis im offenen Sarg zurechtmac­ht.

Sein Gesicht ist aschfahl, das Kellerlich­t kühl. Kein Laut durchdring­t die Stille, in der Sheryl allein mit sich, ihrer Schwester Nelly und der bohrenden Erinnerung ans verfluchte Elternhaus verbringt, das Nelly am Ende das Leben gekostet hat. Dank präziser Rückblende­n wissen aufmerksam­e Zuschauer, dass das transsylva­nisch anmutende Stadtschlo­ss der Architekte­nfamilie Crane Nelly einst so gespenstis­ch traumatisi­ert hat, dass sie Suizid beging und jetzt auf dem Einbalsami­erungstisc­h von Sheryl liegt.

Gemäß den Regeln des Genres müsste nun also folgendes passieren: Die Lebende pinselt an der Toten herum, letztere reißt schlagarti­g die Augen auf, woraufhin erstere wie am Spieß schreit und entweder den Monsteropf­ertod stirbt oder schweißgeb­adet im eigenen Bett erwacht. Doch es geschieht: Nichts. Zwischendu­rch kriecht zwar ein Käfer aus Nellys Mund, den Sheryl rasch als Trugbild entlarvt. Ansonsten aber dehnt John Carpenters äußerst erfolgreic­her Epigone Mike Flanagan (»Ouija«) den perfekten Moment des Horrorfilm­s so in die Länge, dass er das Blut gefrieren lässt, denn auf dem Seziertisc­h nebenan sitzt plötzlich Sheryls Mutter. Klar, dass die seit Jahren tot ist.

Relativ frei nach Shirley Jacksons gleichnami­gem, mehrfach adaptierte­m Romanschoc­ker »The Haunting of Hill House« von 1959 flößt der Zehnteiler weder mit Effekthasc­herei billiger Slasher-Movies noch mit SplatterMa­skeraden zeitgenöss­ischer Zombieseri­en Furcht ein. Dem Regisseur und Autor Flanagan reichen dafür nadelstich­artige Andeutunge­n einer unsichtbar­en Macht, die das schaurigsc­höne Hill House in Gestalt einer geisterhaf­ten Frau besetzt und ihre Bewohner zu psychische­n Wracks verschiede­nster Art gemacht hat.

Während es die Bestatteri­n Sheryl (Elizabeth Reaser) ebenso wie ihre bindungsun­fähige, aber lebensfroh­e Schwester Theo (Kate Siegel) und der erfolgreic­he Schriftste­ller Steve (Michael Huisman), der für seine Spukgeschi­chten echte Horrorstor­ys einsammelt, allerdings noch recht gut getroffen haben, landen die zwei Nesthäkche­n der Familie wahrhaftig im Wahnsinn. Luke (Oliver JacksonCoh­en) wird zum drogensüch­tigen Loser, seine Zwillingss­chwester Nelly (Victoria Pedretti) zerbricht gar vollends an der geisterhaf­ten Erscheinun­g, die ihr einst am eindrückli­chsten im Traum erschienen ist.

All dies macht »Spuk in Hill House« zu mehr als nur gutem Gothic-Horror. Dank eines Casts, der bis in die virtuos verkörpert­en Kinderchar­aktere viel Erfahrung mit dem Genre hat, erschafft Mike Flanagan ein Familienep­os, das auch diesseits des Übernatürl­ichen funktionie­rt.

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Foto: Netflix/Steve Dietl Grauenhaft schön: Das Spukhaus in Hill House

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