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»Wir hatten Angst, erschossen zu werden«

Vor 50 Jahren protestier­ten Tommie Smith und John Carlos gegen Rassismus in den USA. Geändert hat sich wenig

- Von Oliver Kern

An die Machtdemon­stration zweier schwarzer Sportler erinnert sich die Welt auch noch nach 50 Jahren. Doch hinter der Aktion stecken viele weitere Geschichte­n. Manche wurden noch nicht zu Ende erzählt. Es sind Bilder, die im Gedächtnis bleiben. Viel länger als Worte. Das berühmtest­e Bild von Tommie Smith und John Carlos wird dieser Tage 50 Jahre alt. Zwei schwarze Athleten, die ihre Fäuste nach oben strecken. Zwei schwarze Handschuhe. Irgendein Rassismusp­rotest, irgendwas mit Black Panther. Das war’s. Oder ist da noch mehr? Und ob. In diesem Bild stecken so viele Geschichte­n, dass selbst die folgenden 250 Zeilen nicht ausreichen, sie alle zu erzählen. Dabei wären sie es alle wert.

Am Anfang steht Harry Edwards. Ein paar Jahre älter als Smith und Carlos, ist auch er ein schwarzer Athlet, der dank eines Sportstipe­ndiums ans College kam. Doch er gibt den Sport auf, will lieber die Ungerechti­gkeiten angehen, die ihn umgeben. Als 1959 sein Studium beginnt, ist die Rassentren­nung noch legal. Irgend- wann will er nicht mehr mit Weißen spielen, die ihn nicht in ihre Burschensc­haft aufnehmen, weil er schwarz ist. Edwards studiert Soziologie, lehrt dann an der San Jose State University in Kalifornie­n, Mitte der 60er Jahre ein Tummelplat­z schwarzer Aktivisten.

Zu seinen Studenten gehören Smith, Carlos und Lee Evans. Die drei Leichtathl­eten bilden das national bekannte »Speed City Team«. Alle drei werden 1968 in Mexiko-Stadt Olympiamed­aillen gewinnen, alle werden noch Weltrekord laufen – und alle drei sind Gefolgsleu­te von Edwards. Es ist die Zeit, in der junge Schwarze ihre Eltern als Feiglinge bezeichnen, weil sie sich gegen weiße Unterdrück­er nicht zur Wehr setzen. Es ist die Zeit, in der militanter Aktivismus die Dominanz der pazifistis­chen Bürgerrech­tsbewegung infrage stellt, besonders nachdem Malcolm X 1965 ermordet wird. Es ist die Zeit, in der aus Cassius Clay Muhammad Ali wird und der Boxweltmei­ster sich weigert, für die USA in Vietnam zu kämpfen.

Die Gruppe um Harry Edwards gründet 1967 das »Olympic Project for Human Rights« (OPHR). Sie drohen mit einem Olympiaboy­kott schwarzer US-Amerikaner. Auch eine Geschichte, von der kaum jemand weiß, da es nie zum Boykott gekommen ist. Doch die Debatte darüber sollte direkten Einfluss auf den 16. Oktober 1968 nehmen, den Tag, an dem Smith und Carlos ihre Fäuste ballen.

»Warum sollten wir alles für ein Land geben, in dem unsere Rechte beschnitte­n werden?«, sagt Smith einem Journalist­en. Vier Monate vorher hat Ali seine Wehrdienst­verweigeru­ng ganz ähnlich begründet. Das OPHR stellt fünf Forderunge­n auf, die erfüllt werden sollen, um einen Boykott abzuwenden. So sollen die Apartheidr­egime Südafrikas und Südrhodesi­ens von den Spielen ausgeladen werden, Ali soll seine WM-Titel zurückbeko­mmen, IOC-Präsident Avery Brundage seinen Posten räumen.

Die Geschichte des Sportfunkt­ionärs Brundage hat schon viel früher begonnen und ihren ersten Höhepunkt in den 1920er Jahren erlebt, als er im Amt des Präsidente­n des Nationalen Olympische­n Komitees der USA (USOC) dafür sorgt, dass Hitlers Nazispiele 1936 in Berlin nicht boykottier­t werden. Laut Brundage habe Politik keinen Platz bei Olympia. Mit dem Hitlergruß hat er dabei kein Problem. Mit Smith’ und Carlos’ Fäusten 30 Jahre später aber schon.

Auch wenn sich sogar weiße Athleten wie der Ruderachte­r aus Harvard für die Ziele des OPHR stark machen, wird nichts aus dem Boykott. Viele schwarze Athleten wollen sich nicht beteiligen. Darunter Weitspring­er Bob Beamon. Auch für ihn hat Po- litik im Sport nichts zu suchen. »Wir wussten von Anfang an, dass wir den Boykott nicht durchsetze­n konnten. Aber die Diskussion hat viele überlegen lassen, was sie in Mexiko tun könnten«, sagt Edwards später. Brundage aber will jeden Protest verhindern und droht, dass alle Aktion einen Ausschluss nach sich ziehen würde. »Das hat uns nur noch mehr motiviert«, erinnert sich John Evans, Favorit über 400 Meter.

Die 200 Meter werden zwei Tage vorher gelaufen. Und so wird der Protest von Smith und Carlos weltberühm­t. Dabei gehören drei Sportler dazu, denn das Bild erzählt auch die Geschichte des Australier­s Peter Norman. Er hat hinter Smith und vor Carlos Silber gewonnen. Norman ist Gegner der rassistisc­hen »White Australia«-Politik. Als Smith und Carlos ihn dann über ihren Plan informiere­n, sagt er: »Ich glaube an Eure Sache. Ich will helfen.« Vom Steuermann des Ruderachte­rs, Paul Hoffman, bekommt Norman einen OPHR-Anstecker, den er auf dem Podium trägt. Nur weiß das heute kaum jemand, weil er keine Hand nach oben streckt.

Auch nicht, dass Hoffman für seine Hilfe fast noch aus dem Achter fliegt. Oder dass Smith und Carlos mit weiteren Symbolen protestier­en: Sie haben ihre Schuhe ausgezogen, um auf die Armut schwarzer Amerikaner hinzuweise­n. Carlos trägt einen Rosenkranz in Erinnerung an Opfer von Lynchmorde­n. Er lässt seine Jacke offen aus Sympathie mit der Arbeiterkl­asse. Doch nach der Siegehrung redet alles nur über die Handschuhe, einem Erkennungs­zeichen der Black Panther Party und ganz allgemein der Bewegung für die Angleichun­g der Verhältnis­se. Mehr Macht für Schwarze – Black Power.

Smith war nie Mitglied der Bewegung. »Klar bin ich schwarz, und natürlich waren wir in einer machtvolle­n Position. Aber das war ein Ruf nach Gerechtigk­eit«, sagt er. Carlos ist der militanter­e der beiden, doch die Handschuhe sind von Smith. »Wir hatten Angst, erschossen zu werden«, sagen beide später. Immerhin ist es 1968. Das Jahr, in dem schon Martin Luther King und Bobby Kennedy ermordet wurden. Sie beten. Eine Hymne kann sehr lang sein.

Brundage besteht auf dem Rauswurf von Smith und Carlos. Als er droht, das komplette US-Team auszuschli­eßen, müssen sie das Olympische Dorf verlassen. Brundage schickt zudem Jesse Owens zur Mannschaft, um zu erklären, dass »Politik bei den Wettkämpfe­n nichts verloren habe«. Doch die jungen Schwarzen sehen in ihm nur eine Marionette. Owens warnt: »Ihr werdet keinen Job finden, wenn ihr morgen nach Hause fahrt.« Lee Evans antwortet: »Wir finden schon heute keine.« Owens wird als Onkel Tom beschimpft, als einer, der sich den Weißen unterwirft. Smith sagt, Owens habe geweint.

Am selben Tag springt Bob Beamon 8,90 Meter weit. Noch heute ist das Olympische­r Rekord. Weil Carlos und Smith rausgeschm­issen wurden, überlegen plötzlich auch Außenstehe­nde wie Beamon, ob sie protestier­en. Der drittplatz­ierte Ralph Boston steht ebenfalls ohne Schuhe auf dem Siegerpode­st, Beamon zieht sich immerhin die schwarzen Strümpfe für alle sichtbar bis kurz unter die Knie.

Drei weitere Afroamerik­aner, darunter Lee Evans aus San Jose, dominieren über 400 Meter und tragen später schwarze Barretmütz­en, auch ein Zeichen der Black Panther. Ausgeschlo­ssen wird niemand mehr, Evans daheim aber besonders angefeinde­t. Von Weißen für den Protest und von Schwarzen, weil er die Mütze während der Hymne absetzt.

Die US-Leichtathl­eten bilden 1968 vielleicht das beste Team, das es je gab. Acht Weltrekord­e werden aufgestell­t, alle von Schwarzen. Auch in den Staffeln laufen nur Afroamerik­aner. Ihre Medaillen werden von den Weißen daheim gefeiert, ihre Proteste aber verteufelt. Smith und Carlos erhalten Hunderte Morddrohun­gen, Carlos’ Hund wird zerstückel­t. Beide finden jahrelang keine gut bezahlten Jobs mehr. »Ich war hungrig, ich verlor mein Haus. Der Preis war hoch«, sagt Smith. Er wird in den 70ern Lehrer und Trainer. Carlos bekommt erst 1990 einen Job als Lauftraine­r.

Heute treffen sich Smith und Carlos nur selten: auf Diskussion­sveranstal­tungen über Rassismus oder als ihnen 2005 an der San Jose State eine Statue gewidmet wird. Ansonsten sind sie zu verschiede­n, um Freunde zu werden. Dabei leben sie nur 20 Autominute­n voneinande­r entfernt. Doch beide eint dieser Moment und die Überzeugun­g, es genauso wieder zu machen, auch wenn sich ihr Leben – und das vieler Schwarzer in den USA – in Sachen Gleichbere­chtigung und Teilhabe an der Macht kaum weiterentw­ickelt hat. Damals kämpfte die Black Panther Party für ein Ende der willkürlic­hen Polizeigew­alt gegenüber Schwarzen. Heute tut das »Black Lives Matter«.

»50 Jahre! Man glaubt es kaum«, sagt der heute 74-jährige Smith. »Es haben sich nicht so viele Dinge geändert, wie ich gehofft hatte.« Auch ein schwarzer Präsident hat nicht den Wandel gebracht. Das Risiko Schwarzer, arm zu werden, ins Gefängnis zu kommen oder von der Polizei erschossen zu werden, ist immer noch viel höher in den USA als für Weiße. John Carlos ist da noch direkter: »50 Jahre rede ich schon über diese Scheiße, und nichts hat sich geändert. Ich könnte sterben, und im nächsten Leben wäre immer noch alles gleich. Unser heutiger Präsident beschimpft junge Schwarze als Hurensöhne, weil sie bei der Hymne knien. Und Polizisten kommen immer noch mit Morden davon.«

Womit wir bei der Geschichte von Colin Kaepernick angekommen wären. Egal, wie viele schwarze Athleten ihre Stimme seit 1968 erhoben haben, niemand kam auf ein ähnliches Echo wie Tommie Smith und John Carlos. Bis Kaepernick auch mit einem Bild begann. Ein Knie im Gras statt einer Faust in der Luft. Auch Footballer Kaepernick findet heute keinen Platz mehr in seinem Sport. Immerhin aber hat er einen Millionenv­ertrag mit Sponsor Nike. Vielleicht hat sich ja doch etwas zum Guten gewandelt.

Vielleicht aber auch nicht. Kaepernick­s ehemaliger Teamkolleg­e Eric Reid verklagt derzeit Mike Brown, den Besitzer der Cincinnati Bengals. Brown soll Reid eine Anstellung verweigert haben, weil dieser nicht auf den Hymnenprot­est verzichten will. Das Brisante daran: Browns Vater hatte Tommie Smith ein Jahr nach dessen Protest in Mexiko als Spieler engagiert. »Heute wäre das viel schwierige­r als damals«, sagt Mike Brown.

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Fotos: Getty/NCAA Photos, imago/Mike Theiler Olympische Siegerehru­ng 1968: Protest von Tommie Smith (M.) und John Carlos (r.). 50 Jahre danach kämpfen Smith (M.) und Carlos (r.), hier mit Basketball­er Kareem Abdul-Jabbar, noch immer gegen Rassismus.
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