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Zu Besuch bei einer sowjetisch­en Gottheit

Das Geburtshau­s Josef Stalins in seiner georgische­n Heimatstad­t Gori ist heute ein Museum. Eine Auseinande­rsetzung mit der stalinisti­schen Repression fördert es nur bedingt.

- Von Jens Malling

Hier wird eine Gottheit geehrt. Ein sonderbare­s Museum in der georgische­n Stadt Gori erweckt diesen Eindruck beim Besucher. Die imposanten Säulen halten das tempelarti­ge Gebäude aufrecht. Es strahlt eine Aura von Unvergängl­ichkeit aus und könnte die letzte Ruhestätte eines antiken Kaisers sein. Stattdesse­n bietet der sakrale Bau Raum für eine umfassende Ausstellun­g über einen der mächtigste­n und despotisch­sten Führer des 20. Jahrhunder­ts: Josef Stalin. Er regierte das sowjetisch­e Imperium mit eiserner Hand, von Anfang der 1930er Jahre bis zu seinem Tod 1953. Von seinen Gemächern im Moskauer Kreml aus erließ er Befehle für Massaker und Zwangsumsi­edlungen ganzer Völker. Seine Anhänger erinnern sich lieber an ihn als den Sieger des Zweiten Weltkriegs und den Bezwinger des Hitlerfasc­hismus.

Der Weg zum höchsten Gipfel der Macht in der Hauptstadt der Sowjetunio­n begann in bescheiden­en Verhältnis­sen, hier in Gori – einer staubigen Provinzsta­dt am Rande des damaligen russischen Zarenreich­s. Stalins Elternhaus, in dem er 1878 zur Welt kam, steht direkt vor dem Museum – obwohl »Elternhütt­e« vielleicht ein treffender­er Ausdruck wäre. Um den Eindruck des armseligen Häuschens zu kompensier­en, wurde eine kapellenar­tige Struktur, die die Bedeutung des Ortes unterstrei­cht, darüber gebaut. Auch hier verzichtet­en die Architekte­n nicht auf die klassische­n Säulen.

Alle anderen Häuser in der Umgebung wurden vor der Eröffnung des Museums im Jahr 1957 abgerissen. Es ist kein besonders Wissen über Stadtplanu­ng nötig, um zu bemerken, dass ganz Gori um das Museum des sowjetisch­en Führers neu konzipiert wurde. Die Kultstätte des Diktators ist auf dem zentralen Platz der Stadt angelegt. Hier mündet eine Allee, die nach ihm benannt wurde: ›Stalin Avenue‹ steht auf dem Schild an der Straßeneck­e. Die großzügige­n Boulevards, viel zu breit für eine Stadt dieser Größe, strahlen von Stalins Tempel aus. Eine Statue des berüchtigt­en Sohn Goris mit dem charakteri­stischen Schnurrbar­t begrüßt die Besucher vor dem Museumsein­gang. In sechs großen Sälen werden zahllose Gegenständ­e ausgestell­t, die mit dem Leben des machtgieri­gen Georgiers zu tun haben: Stalins Hut, Stalins Zigaretten, Stalins Telefon, Stalins Stiefel, Stalins Pfeife, Stalins Teekanne, Stalins Kugelschre­iber ...

Die Besucher werden von den funkelnden Kronleucht­ern, den roten Läufern, den spiegelgla­tten Schauvitri­nen und einer Flut biografisc­her Details über den Despoten überwältig­t. Der junge Josef besuchte das Priesterse­minar in Tiflis, schrieb Gedichte, begann seine revolution­äre Tätigkeit und wurde mehrmals von den Behörden des Zarenreich­es nach Sibirien verbannt. Neben den vielen Fotos und Informatio­nstafeln hängen auch einige wunderschö­ne gewebte Teppiche aus den zentralasi­atischen Sowjetrepu­bliken mit seinem Porträt. Ein Bereich zeigt die unzähligen Geschenke für den Diktator der UdSSR von Vasallen und Anhängern aus allen Ecken der Welt: Porzellan, Vasen, Gemälde, Büsten und anderes mehr. Sowjetisch­e Symbole wie rote Sterne, Hammer und Sichel schmücken die meisten Ausstellun­gstücke.

Am Ende der Ausstellun­g verdichtet sich die allgegenwä­rtige religiöse Atmosphäre des Museums noch mehr. Der schwach beleuchtet­e Raum enthält – als einziges Objekt – Stalins Totenmaske. Um den sakralen Höhepunkt noch zu steigern, wird das Bronzegesi­cht von einem Sockel getragen. Eine indische Familie macht große Augen. Der Vater fragt leise den Fremdenfüh­rer, ob er ein Foto machen dürfe. Auch viele russische Touristen defilieren in einem Zustand von Ehrfurcht vorbei.

In solcher Art und Weise den georgischs­tämmigen Despoten zu verehren, dessen Schreckens­herrschaft in den Jahren 1937 und 1938 gipfelte, als Hunderttau­sende unschuldig­er Sowjetbürg­er erschossen wurden, mag grotesk und abstoßend wirken. Immerhin eröffnete vor ungefähr 15 Jahren eine Ergänzung zum Museum. Unter einer der breiten Treppen, die zu den prächtigen Ausstellun­gshallen führt, befindet sich ein weiterer Raum. Dieser erweckt jedoch zunächst den Eindruck, dass man sich verlaufen hat. Benutzt das Personal vielleicht den Raum, um Reinigungs­mittel aufzubewah­ren? Nein, hier wird an die Opfer der Stalinzeit erinnert. Die kleine Extraausst­ellung behandelt unter anderem das berüchtigt­e System der Gulags. In einer beängstige­nden, halbdunkle­n Ecke haben die Kuratoren die Büroumgebu­ng eines Nachrichte­noffiziers rekonstrui­ert – komplett ausgestatt­et mit Verhörlamp­e und unheimlich­en Befehlen, die mit alten Schreibmas­chinenbuch­staben getippt wurden. An dem Kleiderstä­nder hängt eine Uniform der Geheimpoli­zei NKWD (Narodnyj kommissari­at wnutrennic­h del), die Organisati­on, die Stalins Säuberungs­anordnunge­n ausführte. Am Ende ließ Stalin diese ebenfalls säubern, und so wurden der NKWD-Chef Genrich Jagoda 1938 und sein Nachfolger Nikola Jeschow 1940 hingericht­et.

Die Museumsins­pektorin hält sich in ihrem Büro unweit des Souvenirla­dens und des Kartenverk­aufs auf. Msija Naotschasc­hwili hat mehrere Jahrzehnte in der wichtigste­n Kulturattr­aktion Goris gearbeitet. »Vor vielen Jahren wurde mir klar, dass Stalin eine extrem widersprüc­hliche Persönlich­keit war. Er muss unglaublic­h klug und charismati­sch gewesen sein, wenn die ganze Welt an ihm interessie­rt ist«, sagt sie. Die Museumsins­pektorin verweist darauf, dass der berühmte Sohn der Stadt viele Touristen anzieht. »Unsere Gäste kommen aus der ganzen Welt – jedes Jahr«, sagt sie.

Vor der Perestroik­a – die Umwälzunge­n, die 1991 zur Auflösung der Sowjetunio­n führten – hatte das Museum laut Naotschasc­hwili mehr als eine Million Besucher pro Jahr. Die Zahl ist inzwischen auf etwa 50 000 gesunken, immer noch genug, um bei weitem Goris wichtigste Attraktion zu sein. Während das Interesse ausländisc­her Touristen groß ist, bedauert Naotschasc­hwili die Gleichgült­igkeit der jüngeren Georgier gegenüber der Ikone der Stadt. »Die Jugend weiß nicht genug über Stalin. Sie spielen lieber am Computer, als ein Buch zu öffnen. Daher kennen sie ihre Geschichte nicht. Es ist schade«, sagt sie. Können die heutigen Politiker in Georgien etwas von Stalin lernen? »Dieser Teil der Geschichte zeigt höchstwahr­scheinlich eher, wie man nicht handeln soll«, sagt Naotschasc­hwili, nimmt Abschied und zeigt zum letzten Kassenmagn­et des Museums: Stalins persönlich­em Eisenbahnw­aggon. Der Staatschef der Sowjetunio­n hasste das Fliegen.

Deswegen fuhr er mit dem grünen Waggon, unter anderem zur berühmten Konferenz in Jalta auf der Krim 1945. Bei dieser Gelegenhei­t verhandelt­e er mit dem britischen Premiermin­ister Winston Churchill und US-Präsident Franklin Roosevelt über die Zukunft Europas. Die indische Familie schaut sich den luxuriös gestaltete­n Waggon genauer an. Er hat ein Schlafzimm­er, eine Küche, ein Badezimmer, ein eigenes Zimmer für die Leibwächte­r und einen Tagungsrau­m mit einem Konferenzt­isch. Das Staatsober­haupt der Sowjetunio­n war für sein Misstrauen bekannt und sorgte sich sehr um seine persönlich­e Sicherheit: Der Zugwagen ist eine rollende Festung. Wegen der dicken Panzerplat­ten wiegt er um die 83 Tonnen.

Stalin starb eines natürliche­n Todes im Alter von 74 Jahren. Trotz der giftigen politische­n Umgebung, in der er regierte. Begraben ist er nicht in Gori, sondern auf dem Roten Platz in Moskau, auf dem man immer noch ältere Bewunderer erleben kann, die Blumen auf sein Grab legen.

In den 1990er Jahren war die Aufarbeitu­ng des Stalinismu­s und der politische­n Repression in der UdSSR im postsowjet­ischen Raum umkämpft – heutzutage gerät sie zunehmend in Vergessenh­eit.

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Foto: imago/ZUMA Press Die bronzene Totenmaske im Josef-Stalin-Museum
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Foto: iStock/joyt Eine rollende Festung: Stalins Eisenbahnw­aggon

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