»Die Mehrheit der Opfer des Stalinismus ist sozial isoliert und öffentlich kaum präsent«
Robert Latypow von der Menschenrechtsorganisation Memorial über die Rolle der Vergangenheit im gegenwärtigen Russland
Die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen in Russland ist Gegenstand heftiger politischer Debatten. Die Regierung begründet ihr zunehmend repressives Vorgehen mit dem Vorwurf, Organisationen wie Memorial würden im Interesse westlicher Staaten, allen voran der USA, agieren. Was macht denn Memorial eigentlich?
Die Organisation Memorial ist keine politische Partei. Obwohl es uns oft vorgeworfen wird, wollen wir keine politische Macht. Wir beschäftigen uns mit der schwierigen Geschichte Russlands. Dabei versuchen wir aufzuklären, auf die Gefahren eines totalitären Systems hinzuweisen und darauf, wohin ein solches System führen kann.
Was bedeutet das konkret für die alltägliche Arbeit?
Wir bemühen uns besonders um die aktive Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger. Wir gehen in Schulen, organisieren Sommerlager und Workshops – auch mit internationaler Beteiligung. Für uns ist es sehr wichtig, dass die Leute an der Erinnerungsarbeit und in öffentlichen Diskussionen aktiv teilnehmen.
Warum ist die Aufarbeitung des Stalinismus in Russland nach wie vor relevant? Könnte man nicht sagen, dass 80 Jahre nach Beginn des Großen Terrors alles Wesentliche über die Zeit bekannt ist? Tatsächlich ist sowohl die stalinistische als auch die post-stalinistische Repression in der Sowjetunion sehr gut erforscht. Zwar sind einige Dokumente in Archiven nach wie vor unzugänglich, aber es gibt eine Vielzahl hervorragender wissenschaftlicher Untersuchungen, Ausstellungen und so weiter. Allerdings lässt sich für die russische Gesellschaft, was den Stalinismus betrifft, kein Konsens feststellen. Das gilt sowohl für diejenigen, die ihn verurteilen, als auch für dessen Verteidiger. Erstere kritisieren, dass zu wenig über die stalinistischen Verbrechen gesprochen wird. Für sie ist die gesamte UdSSR eine ausnahmslos schrecklich Zeit, weshalb selbst die größten Errungenschaften nicht positiv gesehen werden dürfen. Letztere rechtfertigen den Terror als ein notwendiges Übel.
In Deutschland wird oft kritisiert, dass der Staat die Aufarbeitung des Stalinismus erschwere. Wie würden Sie diese Einschätzung beurteilen?
Es gibt durchaus eine öffentliche Stalinismus-Diskussion. In Perm haben wir für unsere Projekt zum Beginn des Großen Terrors vor 80 Jahren sogar Fördermittel aus dem Topf des Präsidenten bekommen. In Moskau wurde kürzlich ein Mahnmal eingeweiht, die Mauer der Trauer (stena skorbi). Wissenschaftler arbeiten und veröffentlichen zum Thema, und am 30. Oktober, dem Tag der Opfer der politischen Repression, gibt es offizielle Veranstaltungen.
Andererseits schließt der Staat historische Archive und behindert die weitere Forschung. Unser Dachverband Internationales Memorial wurde zum ausländischen Agenten erklärt. Der Staat fördert Filme, die Lawrenti Beria, den Chef des NKWD, oder andere Anhänger Stalins idealisieren. Es gibt zudem eine Diskussion, ob das Denkmal eines anderen NKWD-Chefs, Felix Dscherschinskij, auf dem Ljubjanka-Platz wiedererrichtet werden soll. Dort saß damals der Geheimdienst und heute der russische Inlandsgeheimdienst FSB.
Es gibt also eine selektive Geschichtsaufarbeitung seitens des Staates?
In Russland beschäftigen sich viele Organisationen mit Geschichtsaufarbeitung, so auch der Staat. Das gilt explizit für die Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs. Am Beispiel des Krieges lässt sich die Widersprüchlichkeit jedoch deutlich machen. In der offiziellen Rhetorik wird fast alles auf den Sieg reduziert. Dieser Sieg rechtfertigt vieles. Die Opfer, die er gekostet hat, kommen dabei nicht ausreichend vor. Erinnerung an die Opfer des Stalinismus am Gedenkstein auf dem Lubjanka-Platz in Moskau Bei Perm steht das einzige erhaltene Arbeitslager auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Die Ausstellung von Memorial Moskau zeigt unter anderem Briefe von politischen Gefangenen.
Welchen Platz erhalten die Opfer der stalinistischen Repression in dem Versuch, die russische Geschichte als Erfolgsgeschichte umzuschreiben?
Die Mehrheit der Opfer ist aufgrund ihrer Verfolgungsgeschichte bis heute sozial isoliert und in der Öffentlichkeit kaum präsent, obwohl fast alle russische Familien unter der stalinistischen Verfolgung zu leiden hatten.
Wie gestaltet sich die Arbeit mit den Opfern der stalinistischen Repression?
Die soziale Arbeit mit den Opfern ist ein sehr wichtiger Bestandteil unserer Arbeit. Denn sie betrifft unmittelbar unsere Prinzipien: humanistische Ideale, aktive Mitarbeit und Einmischung. Darüber hinaus fördert die Arbeit einen wichtigen Dialog zwischen den Generationen.
Robert Latypow ist seit 2010 Leiter der Menschenrechtsorganisation Memorial und Ko-Vorsitzender der Jugendorganisation im russischen Perm. Memorial wurde 1988 in Moskau von dem ehemaligen Dissidenten Andrej Sacharow zur Aufarbeitung des Stalinismus und zur Unterstützung seiner Opfer gegründet. Mit dem Historiker sprach Felix Jaitner.
Die soziale Arbeit ist ja zudem eine wichtige Tätigkeit in einem Land, in dem seit den 90er Jahren die Sozialsysteme geschleift wurden und Rentnerinnen und Rentner auf die Unterstützung ihrer Familien angewiesen sind.
Als Organisation versuchen wir, in begrenztem Umfang Hilfe zu leisten. Unsere freiwilligen Unterstützer – das sind üblicherweise Studenten, aber auch engagierte Menschen zwischen 30 und 50 Jahren – besuchen regelmäßig Verfolgte im Rentenalter, putzen, kochen oder gehen für sie einkaufen. Allerdings können wir kein staatliches Sozialsystem ersetzen.
Die soziale Arbeit von Memorial liefert Argumente, warum eine solche Tätigkeit im zeitgenössischen Russland wichtig ist ...
In den letzten Jahren sind eine Vielzahl sozialer nicht-staatlicher Organisationen gegründet worden. Das ist eine Entwicklung, die mich einerseits sehr erfreut, denn sie ist eine Reaktion auf die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre. Meiner Ansicht nach sind jedoch viele dieser Menschen – und das ist der problematischere Aspekt an dieser Entwicklung – keine politisch aktiven Menschen. Sie schmerzt die gesellschaftliche Entwicklung und deshalb kümmern sie sich um Kinder, Behinderte oder Pensionäre. Allerdings geschieht viel auf informeller oder projektbezogener Ebene. Genauso schnell wie solche Projekte entstehen, können sie auch wieder verschwinden. Dieser Ansatz löst nicht die grundsätzlichen, systembedingten Probleme in Russland, sondern hilft vor allem – so sehr ich das begrüße – auf individueller Ebene und konserviert dadurch die Probleme.
Dem Staat wird also die Verantwortung für Sozialpolitik abgenommen, obwohl viele Leute die sozialen Probleme, die das heutige System in Russland produziert, sehen?
Leider gibt es keine öffentliche Diskussion darüber, dass Sozialpolitik eine öffentliche Aufgabe ist. Der Staat begrüßt diese Entwicklung sehr, da er dadurch von der Verantwortung befreit wird, für eine sozial gerechte Gesellschaft zu sorgen. Stattdessen überlässt er diese Aufgabe der privaten Initiative einzelner Leute und Organisationen, die darüber hinaus zu den Entwicklungen im Land schweigen und nicht protestieren. Wir sagen aber: Die Gesellschaft kann uns nicht vorhalten, dass die Unterstützung verfolgter Rentnerinnen und Rentner wichtig ist, also überlassen wir sie euch.
Warum stößt die Arbeit von Memorial dann bei so vielen Menschen in Russland auf Irritationen? Weil die Veröffentlichung historischer Fakten unmittelbare Analogien mit der Gegenwart hervorruft. Heutzutage gibt es keinen politischen Massenterror wie unter Stalin, aber es gibt gezielte politische Verfolgungen. Das erinnert mich stark an die Breschnew-Ära und die Verhaftungen der Dissidenten. Wir wollen, dass die Menschen sich zu diesen Entwicklungen verhalten und eine Entscheidung treffen. Eine Form der Entscheidung ist für viele – gerade politisch aktive – Leute die Emigration. Dabei handelt es sich überwiegend um gut ausgebildete, junge Menschen zwischen 30 und 40 Jahren.
Die Organisation Internationales Memorial ist im Jahr 2013 zum ausländischen Agenten erklärt worden. Wie sehr hat sich das auf Ihre Arbeit ausgewirkt?
Memorial ist eine Netzwerkorganisation. Uns vereinen gemeinsame Prinzipien und Ziele. Aber jedes Memorial-Büro ist autonom. Der Vorteil einer solchen horizontalen Organisationsstruktur liegt darin, dass das staatliche Vorgehen gegen eine Einrichtung, wie etwa gegen den Dachverband Internationales Memorial oder die Petersburger Memorial Organisation, sich nicht automatisch auf andere Regionalbüros auswirkt.
Inwiefern erleichtert das Ihre Arbeit unter den gegenwärtigen Bedingungen in Russland?
Natürlich bedeutet die Erklärung zum ausländischen Agenten einen Reputationsverlust für die gesamte Organisation und erschwert unsere Arbeit. Die Regierung im Permer Gebiet vergibt keine Projektfördergelder an Organisationen, die zu ausländischen Agenten erklärt wurden. Der russische Staat hat eine sehr widersprüchliche Einstellung zur Zivilgesellschaft: Entweder nehmt ihr Geld von ausländischen Gebern – dann müsst ihr euch zu ausländischen Agenten erklären lassen. Oder ihr verzichtet darauf und bewerbt euch nur auf staatliche Fördermittel, von denen nicht garantiert ist, dass ihr sie bekommt, und die überdies oft nicht ausreichend sind. Da unsere regionale Organisation in Perm jedoch nicht zum ausländischen Agenten erklärt wurde, können wir uns weiterhin auf staatliche Fördermittel bewerben.