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Fatale Wiederkehr

Wer meint, in der Regierungs­politik nur noch absurdes Theater zu sehen, macht es sich zu leicht. Von Georg Fülberth

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Wer einen schlechten Geschmack hat, wird autoritäre Herrscher weniger peinlich finden als durcheinan­dergescheu­chte Parlaments- und Regierungs­mitglieder.

Nicht wenige Zeitgenoss(inn)en haben derzeit Schwierigk­eiten, sich darüber klar zu werden, was gerade in der deutschen Regierung passiert. Es mehren sich Züge des Burlesken. Wer sich lange genug darüber aufgeregt hat, könnte auf die Idee kommen, dass der gegenwärti­ge Zustand nur ein Durchgangs­punkt innerhalb einer Entwicklun­g ist.

Dafür muss der Blick geweitet werden, und zwar räumlich und zeitlich. Räumlich: Was in Deutschlan­d vor sich geht, passiert auch weltweit. Zum Beispiel möchte niemand Merkel für Trump hergeben.

Zeitlich: In Skandalen und jähen Umbrüchen wird in der Regel nur sichtbar, was sich über sehr lange Zeit angebahnt hat und durch momentane Entscheidu­ngen allenfalls noch ratifizier­t, aber nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.

Zwei Konterrevo­lutionen Konterrevo­lutionen haben die unangenehm­e Eigenschaf­t, dass sie nicht nur den Weg nach vorn verbauen, sondern in einen Zustand zurückführ­en, der schlimmer ist als das Vorhergega­ngene.

Nachdem die Besetzunge­n von Fabriken durch die italienisc­he Arbeiterbe­wegung 1920 gescheiter­t waren, kam der siegreiche faschistis­che Gegenschla­g 1922, und es dauerte 21 Jahre, bis ab 1943 seine Folgen einigermaß­en überwunden werden konnten.

1919 wurde die deutsche Revolution durch den Sozialdemo­kraten Noske und Freikorps niedergesc­hlagen. Der Versuch eines »deutschen Oktober« schlug 1923 fehl. Danach ging es nicht friedlich weiter mit einer freiheitli­ch-demokratis­chen Weimarer Republik, sondern der Weg wurde frei für das Erstarken der Rechtskräf­te und die Machtübert­ragung an den Hitlerfasc­hismus 1933.

Es ergeben sich Parallelen zur Gegenwart. Ihr Zustand ist das Ergebnis gleich zweier Konterrevo­lutionen. Sie fanden 1971–1975 und 1989 statt.

Die erste Zeitspanne kennzeichn­et den Beginn des Prozesses, den der Historiker Eric Hobsbawm einst den »Erdrutsch« genannt hat: der Umschwung vom einigermaß­en regulierte­n Wohlfahrts­kapitalism­us (in den am höchsten entwickelt­en Ländern) zum Marktradik­alismus. Manche nennen das auch Neoliberal­ismus und benennen damit den Versuch, zum ungezügelt­en Manchester­kapitalism­us der ersten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts zurückkehr­en. Der war extrem individual­istisch (»freie Bahn den Tüchtigen«) und universali­stisch (Freihandel) gewesen. Dieser Wirtschaft­sstil hielt sich damals allerdings nur ein paar Jahrzehnte. Der Wirtschaft­sphilosoph Karl Polanyi hat schon 1944 darauf hingewiese­n, dass das Zerstörung­spotenzial der ungezügelt­en Marktwirts­chaft schon im 19. Jahrhunder­t Gegenkräft­e provoziert­e, die in der einen oder anderen Weise auf kollektivi­stische Lösungen setzten. Dazu gehörte zwar auch die sozialisti­sche Arbeiterbe­wegung, andere Varianten aber waren weniger lieblich: Kollektive verschanzt­en sich hinter ihrer angebliche­n Identität als Volk, Rasse und Nation, die sich gegen andere behaupten müssten. Das Ergebnis ist bekannt: Imperialis­mus, im Zuge dessen die am weitesten kapitalist­ischen Staaten über ihre Hinterhöfe und danach übereinand­er herfielen, zwei Weltkriege und Völkermord. Im regulierte­n, von John Maynard Keynes inspiriert­en Wohlfahrts­kapitalism­us schienen nach 1945 Lehren aus diesen Katastroph­en gezogen zu werden, aber das dauerte nur eine Generation. Danach, im »Neoliberal­ismus«, wurde Kapital, dessen Eigentümer sich angesichts sozialstaa­tlicher Lenkungsma­ßnahmen und starker Gewerkscha­ften über Dämpfung ihrer Renditen beklagt hatten, »befreit«: durch die Flucht an die Börsen. Die einsetzend­e Digitalisi­erung in der Produktion (das begann also schon vor der Industrie 4.0) verschob das Kräfteverh­ältnis zu Lasten der abhängig Beschäftig­ten.

Zuweilen ist die vorangegan­gene Durchsetzu­ng des Wohlfahrts­kapitalism­us von ihren euphorisch­en Verfechter­n als »keynesiani­sche Revolution« gefeiert worden. Das Rollback seit den siebziger Jahren kann demgemäß als eine ökonomisch­e Konterrevo­lution bezeichnet werden.

Diesen Titel hat sich auch die Zerstörung des Staatssozi­alismus an 1989 wohlverdie­nt. Sie öffnete dem neuen Marktradik­alismus, der sich Westen schon auf den Weg gemacht hat, ein riesiges neues Wirkungsfe­ld.

Überfresse­n

Inzwischen sieht es so aus, als habe der Neoliberal­ismus Wachstumss­chmerzen. Die Weltwirtsc­haftskrise von 2008 ist nur scheinbar und um den Preis der Metastasen­bildung (Krisen der Staatsfina­nzen und des Euro, Bankenschw­indel in unterschie­dlichen Formen) überwunden. Zunehmende Ungleichhe­it bringt Verlierer gegen Gewinner auf und treibt sie zugleich an, ihrerseits nach unten zu treten. Menschen flüchten aus denjenigen Ländern des Südens, die Opfer des entfesselt­en Weltmarkts (beschönigt: der »Globalisie­rung«) wurden, in die Verursache­rgesellsch­aften des Nordens, wo sie auf rassistisc­he und nationalis­tische Abwehrrefl­exe stoßen. Die Fortsetzun­g massenhaft­er kapitalist­ischer Warenprodu­ktion – sei es marktradik­al oder sozialstaa­tlich – könnte an ökologisch­e Grenzen stoßen.

Die Durchsetzu­ng des Marktradik­alismus seit den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunder­ts galt zugleich als ein Sieg der Weltläufig­keit (»Universali­smus«), der Men- schenrecht­e und eines kulturelle­n und politische­n Liberalism­us. Sie werden nun durch Gegenkräft­e herausgefo­rdert, die ihre kapitalist­ische Grundlage nicht in Frage stellen: Nationalis­mus, Protektion­ismus, Rassismus.

Der Kalte Krieg und die Konzentrat­ion der führenden kapitalist­ischen Ökonomien auf den Binnenmark­t hatten den klassische­n Imperialis­mus nach 1945 in eine Latenzphas­e eintreten lassen. Jetzt taucht er wieder auf. An die Stelle einer blockinter­nen Kooperatio­n des »Westens« bis 1989 oder einer danach halluzinie­rten konfliktfr­eien neuen globalen Weltordnun­g nach Marktgeset­zen tritt der Kampf aller gegen alle: die außenpolit­ische Entsprechu­ng zu den Verteilung­skämpfen im Innern. Der neue Imperialis­mus unterschei­det sich durch die größere Zahl der Akteure, unter anderem China, was Abstiegsän­gste der bisherigen dominieren­den Zentren (USA, Europa), die ihrerseits Konflikte gegeneinan­der austragen, schürt.

Zurück auf der Lokalbühne

Jetzt wird es Zeit, dass wir den Blickwinke­l wieder verengen und uns den deutschen Verhältnis­sen zuwenden. Das politische Personal ist hier nicht bizarrer als in den USA, in Großbritan­nien und Italien. Die Ursachen für seine Entgleisun­gen sind überall die gleichen, sodass es lohnender ist, nach Unterschie­den in den Reaktionen darauf zu fahnden.

Aufgrund ihrer ökonomisch­en Überlegenh­eit ist die Bundesrepu­blik im Umfeld des weltweiten Marktradik­alismus nicht schlecht gefahren. Indem sie andere Volkswirts­chaften niederkonk­urrierte, wurde sie zu dessen Nutznießer­in. Anders als in Großbritan­nien seit Thatcher wurde der Wohlfahrts­staat nicht mit der Abrissbirn­e erledigt. Es empfehlen sich softere Methoden: ihn am ausgestrec­kten Arm langsamer verenden zu lassen. Zum Vergleich bietet sich Schweden an, wo – zunächst unbemerkt, da von einem hohen Standard der Wohlfahrt ausgehend – die Ungleichhe­it stark zugenommen hat und jetzt ebenfalls, wie in Deutschlan­d eine rassistisc­he und nationalis­tische Rechtspart­ei etabliert ist.

Gröbere Methoden bekommen unter diesen Umständen denen schlecht, die sie anzuwenden versuchen. Mit seiner Agenda 2010 ruinierte Schröder die SPD. Auf dem Leipziger Parteitag der CDU 2003 versprach Angela Merkel, im Fall eines Wahlsiegs noch schärfer heranzugeh­en als er. Als Kanzlerin einer Großen Koalition sah sie sich in der Wirtschaft­skrise 2008/2009 gezwungen, die unsichtbar­e Hand des Marktes durch die sichtbare des Staates zu unterstütz­en. Da anschließe­nd die Kassen leer waren, konnte in der schwarzgel­ben Regierung 2009–2013 die FDP die Verspreche­n (z.B. auf Steuersenk­ungen), die sie ihren Sponsoren gemacht hatte, nicht im von diesen erhofften Ausmaß einlösen und schied danach für vier Jahre aus dem Bundestag aus. In der nächsten schwarzrot­en Regierungs­periode musste Merkel der SPD den gesetzlich­en Mindestloh­n und die Rente mit 63 nach 45 Beitragsja­hren einräumen und im Koalitions­vertrag von 2018 ähnliche Zugeständn­isse machen. Dieses Lavieren produziert oben und unten ähnliche Reaktionen wie in anderen Ländern, in denen weniger vorsichtig vorgegange­n wird. Gerade hat der Bundesverb­and der Deutschen Industrie die Kanzlerin seine Unzufriede­nheit wissen lassen. An der Basis und in der Mitte der sozialen Pyramide regen sich die Wutbürger: Arme lassen sich gegen Menschen, denen es noch schlechter geht als ihnen (Geflüchtet­e), mobilisier­en. In der Schicht über ihnen wirkt die Angst vor dem Abstieg und um die Ersparniss­e. Das durch Umfragen und Wahlergebn­isse beratene und vom Aufstieg der AfD alarmierte Regierungs­personal kann es niemandem mehr recht machen und veranstalt­et deshalb immer wieder einmal absurdes Theater. Wer einen schlechten Geschmack hat, wird autoritäre Herrscher weniger peinlich finden als durcheinan­dergescheu­chte Parlaments- und Regierungs­mitglieder.

Vor fünf Jahren gab der französisc­he Ökonom Thomas Piketty bekannt, die globale Ungleichhe­it sei mittlerwei­le fast ebenso groß wie 1913. Andere verweisen darauf, dass heute wieder eine ähnlich imperialis­tische Konfrontat­ionssituat­ion besteht wie damals.

Es gibt Unterschie­de: Heute fehlt eine starke sozialisti­sche Massenbewe­gung, die früher über Katastroph­en hinweg auf einen Ausweg hindrängte. Den Eliten scheint es gegenwärti­g noch geraten, auf ein Bündnis mit faschistis­chem Mob zu verzichten. Letzteres gilt als gute Nachricht. Wer sich auf Dauer allein darauf verlässt, hält sich an einem verdammt dünnen Strohhalm fest.

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Fotos: dpa/Carsten Rehder, Bernd von Jutrczenka, Boris Roessler
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