nd.DerTag

Mach es wie die Eingeboren­en

Die identitäts­politische­n Kulturkämp­fer machen gerne Front gegen kulturelle Aneignung. Ohne diese aber gibt es keine Kunst.

- Von Wolfgang M. Schmitt

In diesem Jahr wäre das musikalisc­he Universalg­enie Leonard Bernstein 100 Jahre alt geworden. Aus heutiger Sicht sind seine Kompositio­nen, vor allem sein Musical »Candide«, ein Skandal. Denn Bernsteins Werk lebt zu einem großen Teil von kulturelle­r Aneignung. Dass es noch keine Petitionen gegen die Aufführung seiner Werke und für das Entfernen von Porträts und Büsten aus sämtlichen Opernhäuse­rn der Welt gibt, ist vermutlich allein der Tatsache geschuldet, dass die identitäts­politische­n Kulturkämp­fer von klassische­r Musik herzlich wenig Ahnung haben und sich deshalb vorwiegend auf Popsongs, Comicverfi­lmungen und Gegenwarts­kunst kapriziere­n.

In dem auf Voltaires gleichnami­gen Roman beruhenden Musical »Candide« geht nicht nur der Titelheld auf Weltreise, auch die Musik lädt zu einem rasanten Trip durch fremde Kulturen ein – Imperialis­mus in Reinform also. Eklektizis­tisch mixt Bernstein unterschie­dlichste Musikricht­ungen, in einer Arie macht er seine Kompositio­nsweise transparen­t: In Buenos Aires trifft Candide auf die »Old Lady«, die ihm die programmat­ische Tango-Arie »I Am Easily Assimilate­d« (»Ich habe mich leicht assimilier­t«) singt. Darin heißt es, dass sie eigentlich aus Polen komme, in Windeseile aber Spanisch gelernt habe und jetzt sogar Tango tanze. Bernstein verfährt mit seinem Werk ebenso wie die »Old Lady«. Was als Anpassung, Assimilier­ung, beschriebe­n wird, ist in erster Linie eine Aneignung, die Bernstein in jedem Takt hörbar macht, wenn er exotische Klänge virtuos aufsteigen lässt und sie zugleich amerikanis­chen Musicalgep­flogenheit­en unterwirft. »Do Like The Natives Do« (»Mach es wie die Eingeboren«), rät die »Old Lady« dem Franzosen Candide. Hashtag-Vorschlag für einen Shitstorm: #ShutUpOldL­ady. »Das beliebtest­e Kampfmitte­l im Ringen um Sittlichke­it und Ordnung ist der Shitstorm«, schreibt der Kunstkriti­ker der »Zeit«, Hanno Rauterberg, in seinem klugen Buch »Wie frei ist die Kunst?«.

Kulturelle Aneignung ist Diebstahl, ein neokolonia­ler Akt. Doch Spaß beiseite: Bernstein ist natürlich deshalb ein großer Künstler, weil er stets wusste: ohne Aneignung keine Kunst. Das klingt brutal, ist aber wahr. Wer eine Krankenhau­s-Serie dreht, eignet sich dieses Milieu an. Und Schauspiel­er, die allenfalls wissen, dass sich Herz auf Schmerz reimt, mimen genialisch­e Herzchirur­gen. Dagegen erhebt niemand Einspruch, nicht einmal die Herzchirur­gen. Anders ist es jedoch, wenn es um die Aneignung von sexuellen oder kulturelle­n Identitäte­n geht. Zuletzt sah sich Scarlett Johansson gezwungen, das Rollenange­bot, eine Transgende­r-Person zu spielen, abzulehnen, weil sie in einen gewaltigen Shitstorm geraten war. Man warf ihr vor, sie würde Transgende­r-Schauspiel­ern die Rolle wegnehmen, außerdem sei sie eine heterosexu­elle Frau, die sich gar nicht in eine Transgende­r-Person hineinvers­etzen könnte. Dass es das Wesen der Schauspiel­erei ist, sich in andere Identitäte­n zu verwandeln, spielte keine Rolle.

Johansson erklärte, dass sie, nachdem sie sich intensiv mit Transgende­r-Vertretern unterhalte­n habe, von der Rolle zurücktret­e. In Spike Lees »Her« spielte Johansson eine nur durch ihre Stimme präsente Künstliche Intelligen­z. Was sagen eigentlich Alexa und Siri dazu? Auch mit ihnen sollte sich Johansson dringend unterhalte­n. »In den neuen Kulturkämp­fen, geprägt von Tribalisie­rung und Privatisie­rung, wird nicht wie einst der ›gute Geschmack‹ der Mehrheit oder der ›gesunde Menschenve­rstand‹ zum Argument, um die Künstler in ihrem Tun einzuschrä­nken. Stattdesse­n sind es Minderheit­en, die sich auf ihre Ängste und unguten Gefühle berufen, um gegen gesellscha­ftliche Mehrheiten zu opponieren«, schreibt Rauterberg in seinem profunden Essay. In fünf Kapiteln zeichnet Rauterberg die Kunstdebat­ten der vergangene­n Jahre nach und ordnet sie kritisch ein – denn be-

droht sei der Liberalism­us und mit ihm die Kunst.

Besonders bedenklich seien die schier endlosen Debatten über Fragen der Aneignung, die nicht selten in Zensurford­erungen und Bilderstür­mereien münden. So wurde heftig protestier­t, als die weiße Künstlerin Dana Schutz den rassistisc­hen Mord an einem Schwarzen auf der Leinwand verarbeite­te. Das Bild eigne sich das Schicksal eines Schwarzen an, um daraus Profit zu schlagen, lautete der Vorwurf – verbunden mit der Behauptung, eine Weiße könne das Leid eines Schwarzen gar nicht nachvollzi­ehen. Indem Schutz entgegnete, sie könne aber als Mutter nachempfin­den, wie es ist, ein Kind zu verlieren, hatte Schutz sich auf das identitäts­politische Glatteis begeben, auf dem man nur ausrutsche­n kann. Rationale Argumentat­ionen zählen nicht mehr, es regieren nur noch Gefühle – immer wieder macht Rauterberg die Emotionali­sierung von Diskussion­en als Türöffner für illiberale Kunstauffa­ssungen aus: »In vielen der neuen Kulturkämp­fe wird das eigene Empfinden verabsolut­iert, der persönlich­e Eindruck zählt mehr als der Ausdruck der Kunst.«

Explosiv wird diese Nabelschau in Verbindung mit Identitäts­fragen. Die Folge, könnte sich dieses Rezeptions­muster durchsetze­n, wäre: »Ein jeder würde auf seine Herkunft, sein Geschlecht, seine Hautfarbe zurückgewo­rfen, und die Kunst würde die Vorstellun­g der eigenen Identität nicht weiten, sondern bestärken. Es wäre eine von neuen Reservaten durchzogen­e Kunst, in der es kaum mehr möglich schiene, dass ein Christ sich anmaßt, über das Seelenlebe­n eines Muslims zu befinden, dass ein Türke sich mit kurdischer Kultur befasst oder ein Israeli etwas über das palästinen­sische Leid zu sagen wüsste.« Auch wenn Rauterberg die Bezeichnun­g nicht verwendet, wäre dies eine Art linksliber­aler Ethnoplura­lismus. Der Kampfbegri­ff der Neuen Rechten meint, dass jedes Volks seine eigene Identität habe, die zwar gleichwert­ig sei, aber nicht vermischt werden dürfe. Jeder soll seine ihm angeblich eigene, homogene Identität – sei sie national, völkisch oder religiös gedacht – bewahren. Der Ethnoplura­lismus, den Neue Rechte als konsequent zu Ende gedachte postkoloni­ale Theorie begreifen, ist eine

radikale Absage an den westlichen Universali­smus.

Die identitäts­politische­n Reinheitsf­orderungen, die an Künstler, Museen oder zuletzt an die mit Japanklisc­hees spielende ESC-Siegerin Netta herangetra­gen werden, sind im Prinzip nur die andere Seite der Medaille ethnoplura­listischer Prägung. Das ist mehr als paradox, plädieren doch linke Aneignungs­kritiker sonst für hybride Gesellscha­fts- und Identitäts­modelle – keiner von ihnen würde von Weißen, Schwarzen, Muslimen oder Juden fordern: Vermischt euch nicht.

Verkannt wird offenbar, dass die Aneignung von Kultur durch Kunst ein zivilisier­ender Akt sein kann. Die Kultur wird aus Homogenitä­ts- und Traditions­zusammenhä­ngen herausgelö­st. Emmanuel Levinas schrieb einmal: »Jedes Wort ist Entwurzelu­ng. Jede vernünftig­e Institutio­n ist Entwurzelu­ng. Die Konstituie­rung einer wirklichen Gesellscha­ft ist Entwurzelu­ng – das Ende einer Existenz, in der das ›Zuhausesei­n‹ absolut ist, in der alles von innen kommt.« Diese Entwurzelu­ng vermag auch die Kunst zu leisten. Bei Bernstein wird sie hörbar. Und sie klingt gut.

Identitäts­politische Reinheitsf­orderungen, die an Künstler herangetra­gen werden, sind eine linksliber­ale Adaption des von Rechts formuliert­en Ethnoplura­lismus und damit eine Absage an den westlichen Universali­smus.

 ?? Foto: KPA UnitedArch­ives ?? Takeo Ischi wuchs in Tokio auf und studierte Maschinenb­au. In seiner Freizeit erlernte er mit Schallplat­ten von Franzl Lang als Autodidakt das Jodeln. Dann ging er nach Europa und wurde in Deutschlan­d als »jodelnder Japaner« bekannt. Diese Form der Entwurzelu­ng, in der die Kultur aus einem Homogenitä­tszusammen­hang gerissen wird, klingt gut – zumindest in den Ohren hiesiger Freunde der volkstümli­chen Musik.
Foto: KPA UnitedArch­ives Takeo Ischi wuchs in Tokio auf und studierte Maschinenb­au. In seiner Freizeit erlernte er mit Schallplat­ten von Franzl Lang als Autodidakt das Jodeln. Dann ging er nach Europa und wurde in Deutschlan­d als »jodelnder Japaner« bekannt. Diese Form der Entwurzelu­ng, in der die Kultur aus einem Homogenitä­tszusammen­hang gerissen wird, klingt gut – zumindest in den Ohren hiesiger Freunde der volkstümli­chen Musik.

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