Mach es wie die Eingeborenen
Die identitätspolitischen Kulturkämpfer machen gerne Front gegen kulturelle Aneignung. Ohne diese aber gibt es keine Kunst.
In diesem Jahr wäre das musikalische Universalgenie Leonard Bernstein 100 Jahre alt geworden. Aus heutiger Sicht sind seine Kompositionen, vor allem sein Musical »Candide«, ein Skandal. Denn Bernsteins Werk lebt zu einem großen Teil von kultureller Aneignung. Dass es noch keine Petitionen gegen die Aufführung seiner Werke und für das Entfernen von Porträts und Büsten aus sämtlichen Opernhäusern der Welt gibt, ist vermutlich allein der Tatsache geschuldet, dass die identitätspolitischen Kulturkämpfer von klassischer Musik herzlich wenig Ahnung haben und sich deshalb vorwiegend auf Popsongs, Comicverfilmungen und Gegenwartskunst kaprizieren.
In dem auf Voltaires gleichnamigen Roman beruhenden Musical »Candide« geht nicht nur der Titelheld auf Weltreise, auch die Musik lädt zu einem rasanten Trip durch fremde Kulturen ein – Imperialismus in Reinform also. Eklektizistisch mixt Bernstein unterschiedlichste Musikrichtungen, in einer Arie macht er seine Kompositionsweise transparent: In Buenos Aires trifft Candide auf die »Old Lady«, die ihm die programmatische Tango-Arie »I Am Easily Assimilated« (»Ich habe mich leicht assimiliert«) singt. Darin heißt es, dass sie eigentlich aus Polen komme, in Windeseile aber Spanisch gelernt habe und jetzt sogar Tango tanze. Bernstein verfährt mit seinem Werk ebenso wie die »Old Lady«. Was als Anpassung, Assimilierung, beschrieben wird, ist in erster Linie eine Aneignung, die Bernstein in jedem Takt hörbar macht, wenn er exotische Klänge virtuos aufsteigen lässt und sie zugleich amerikanischen Musicalgepflogenheiten unterwirft. »Do Like The Natives Do« (»Mach es wie die Eingeboren«), rät die »Old Lady« dem Franzosen Candide. Hashtag-Vorschlag für einen Shitstorm: #ShutUpOldLady. »Das beliebteste Kampfmittel im Ringen um Sittlichkeit und Ordnung ist der Shitstorm«, schreibt der Kunstkritiker der »Zeit«, Hanno Rauterberg, in seinem klugen Buch »Wie frei ist die Kunst?«.
Kulturelle Aneignung ist Diebstahl, ein neokolonialer Akt. Doch Spaß beiseite: Bernstein ist natürlich deshalb ein großer Künstler, weil er stets wusste: ohne Aneignung keine Kunst. Das klingt brutal, ist aber wahr. Wer eine Krankenhaus-Serie dreht, eignet sich dieses Milieu an. Und Schauspieler, die allenfalls wissen, dass sich Herz auf Schmerz reimt, mimen genialische Herzchirurgen. Dagegen erhebt niemand Einspruch, nicht einmal die Herzchirurgen. Anders ist es jedoch, wenn es um die Aneignung von sexuellen oder kulturellen Identitäten geht. Zuletzt sah sich Scarlett Johansson gezwungen, das Rollenangebot, eine Transgender-Person zu spielen, abzulehnen, weil sie in einen gewaltigen Shitstorm geraten war. Man warf ihr vor, sie würde Transgender-Schauspielern die Rolle wegnehmen, außerdem sei sie eine heterosexuelle Frau, die sich gar nicht in eine Transgender-Person hineinversetzen könnte. Dass es das Wesen der Schauspielerei ist, sich in andere Identitäten zu verwandeln, spielte keine Rolle.
Johansson erklärte, dass sie, nachdem sie sich intensiv mit Transgender-Vertretern unterhalten habe, von der Rolle zurücktrete. In Spike Lees »Her« spielte Johansson eine nur durch ihre Stimme präsente Künstliche Intelligenz. Was sagen eigentlich Alexa und Siri dazu? Auch mit ihnen sollte sich Johansson dringend unterhalten. »In den neuen Kulturkämpfen, geprägt von Tribalisierung und Privatisierung, wird nicht wie einst der ›gute Geschmack‹ der Mehrheit oder der ›gesunde Menschenverstand‹ zum Argument, um die Künstler in ihrem Tun einzuschränken. Stattdessen sind es Minderheiten, die sich auf ihre Ängste und unguten Gefühle berufen, um gegen gesellschaftliche Mehrheiten zu opponieren«, schreibt Rauterberg in seinem profunden Essay. In fünf Kapiteln zeichnet Rauterberg die Kunstdebatten der vergangenen Jahre nach und ordnet sie kritisch ein – denn be-
droht sei der Liberalismus und mit ihm die Kunst.
Besonders bedenklich seien die schier endlosen Debatten über Fragen der Aneignung, die nicht selten in Zensurforderungen und Bilderstürmereien münden. So wurde heftig protestiert, als die weiße Künstlerin Dana Schutz den rassistischen Mord an einem Schwarzen auf der Leinwand verarbeitete. Das Bild eigne sich das Schicksal eines Schwarzen an, um daraus Profit zu schlagen, lautete der Vorwurf – verbunden mit der Behauptung, eine Weiße könne das Leid eines Schwarzen gar nicht nachvollziehen. Indem Schutz entgegnete, sie könne aber als Mutter nachempfinden, wie es ist, ein Kind zu verlieren, hatte Schutz sich auf das identitätspolitische Glatteis begeben, auf dem man nur ausrutschen kann. Rationale Argumentationen zählen nicht mehr, es regieren nur noch Gefühle – immer wieder macht Rauterberg die Emotionalisierung von Diskussionen als Türöffner für illiberale Kunstauffassungen aus: »In vielen der neuen Kulturkämpfe wird das eigene Empfinden verabsolutiert, der persönliche Eindruck zählt mehr als der Ausdruck der Kunst.«
Explosiv wird diese Nabelschau in Verbindung mit Identitätsfragen. Die Folge, könnte sich dieses Rezeptionsmuster durchsetzen, wäre: »Ein jeder würde auf seine Herkunft, sein Geschlecht, seine Hautfarbe zurückgeworfen, und die Kunst würde die Vorstellung der eigenen Identität nicht weiten, sondern bestärken. Es wäre eine von neuen Reservaten durchzogene Kunst, in der es kaum mehr möglich schiene, dass ein Christ sich anmaßt, über das Seelenleben eines Muslims zu befinden, dass ein Türke sich mit kurdischer Kultur befasst oder ein Israeli etwas über das palästinensische Leid zu sagen wüsste.« Auch wenn Rauterberg die Bezeichnung nicht verwendet, wäre dies eine Art linksliberaler Ethnopluralismus. Der Kampfbegriff der Neuen Rechten meint, dass jedes Volks seine eigene Identität habe, die zwar gleichwertig sei, aber nicht vermischt werden dürfe. Jeder soll seine ihm angeblich eigene, homogene Identität – sei sie national, völkisch oder religiös gedacht – bewahren. Der Ethnopluralismus, den Neue Rechte als konsequent zu Ende gedachte postkoloniale Theorie begreifen, ist eine
radikale Absage an den westlichen Universalismus.
Die identitätspolitischen Reinheitsforderungen, die an Künstler, Museen oder zuletzt an die mit Japanklischees spielende ESC-Siegerin Netta herangetragen werden, sind im Prinzip nur die andere Seite der Medaille ethnopluralistischer Prägung. Das ist mehr als paradox, plädieren doch linke Aneignungskritiker sonst für hybride Gesellschafts- und Identitätsmodelle – keiner von ihnen würde von Weißen, Schwarzen, Muslimen oder Juden fordern: Vermischt euch nicht.
Verkannt wird offenbar, dass die Aneignung von Kultur durch Kunst ein zivilisierender Akt sein kann. Die Kultur wird aus Homogenitäts- und Traditionszusammenhängen herausgelöst. Emmanuel Levinas schrieb einmal: »Jedes Wort ist Entwurzelung. Jede vernünftige Institution ist Entwurzelung. Die Konstituierung einer wirklichen Gesellschaft ist Entwurzelung – das Ende einer Existenz, in der das ›Zuhausesein‹ absolut ist, in der alles von innen kommt.« Diese Entwurzelung vermag auch die Kunst zu leisten. Bei Bernstein wird sie hörbar. Und sie klingt gut.
Identitätspolitische Reinheitsforderungen, die an Künstler herangetragen werden, sind eine linksliberale Adaption des von Rechts formulierten Ethnopluralismus und damit eine Absage an den westlichen Universalismus.