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Marshmallo­w-Maximierun­g

Ein berühmtes psychologi­sches Experiment zur Selbstkont­rolle ist neu zu deuten.

- Von Martin Koch

Gleich essen oder später mehr bekommen? Der in der Psychologi­e klassische Marshmallo­w-Test fragt letztlich unternehme­risches Sozialverh­alten ab.

Menschen haben vor allem dann Erfolg im Privat- und Berufslebe­n, so behaupten Sozialpsyc­hologen, wenn sie schon als Kind fähig sind, ihr Verhalten selbst zu kontrollie­ren. Auch Roy Baumeister, Motivation­sforscher an der University of Queensland in Australien, vertritt diese Auffassung mit Leidenscha­ft. In seinem Buch »Die Macht der Disziplin« erklärt er dazu: »Selbstkont­rolle ist der wahre Glücklichm­acher, Selbstkont­rolle macht Kinder im späteren Leben stark. Leute mit viel Selbstkont­rolle führen im Schnitt bessere und längere Beziehunge­n als Menschen, die sich weniger gut im Griff haben. Sie werden mehr gemocht und anerkannt. Sie sind weniger gestresst, fühlen sich weniger schuldig, können sich besser an neue Situatione­n anpassen und sind weniger beratungsr­esistent.«

Zur Begründung solcher Hymnen auf die Selbstkont­rolle dient häufig ein Experiment, das der kürzlich verstorben­e österreich­isch-amerikanis­che Psychologe Walter Mischel vor einem halben Jahrhunder­t an der Stanford University durchführt­e. Die Rede ist vom sogenannte­n Marshmallo­w-Test – der Name geht zurück auf eine in den USA beliebte Süßigkeit aus Schaumzuck­er.

Seine Versuchspe­rsonen, Kinder zwischen vier und sechs Jahren, fand Mischel größtentei­ls in seiner akademisch­en Umgebung. Der Test selbst lief wie folgt ab: In einem von außen einsehbare­n Raum saß jeweils ein Kind vor einem Tisch, auf dem der Versuchsle­iter die Süßigkeit platzierte. Anschließe­nd verließ er unter einem Vorwand den Raum und bat das Kind, erst dann zuzugreife­n, wenn er wieder zurück sei. Zur Belohnung für das Warten gäbe es dann mehr Marshmallo­ws. Normalerwe­ise kehrte der Versuchsle­iter nach 15 bis 20 Minuten in den Raum zurück. Doch so lange hielten die meisten Kinder nicht durch. Sie griffen früher nach der Süßigkeit (im Schnitt nach acht Minuten) und verzichtet­en damit auf eine zusätzlich­e Belohnung.

Unter den Versuchspe­rsonen befanden sich auch Mischels Töchter, von denen er später gelegentli­ch erfuhr, wie sich andere getestete Kinder entwickelt hatten. »Hin und wieder fragte ich, wie geht es eigentlich Susie, oder, was macht George. Ich schrieb mir die Antworten auf und entdeckte einen verblüffen­den Zusammenha­ng zwischen den Testresult­aten und den Kommentare­n meiner Töchter.« Kinder, die ihr Verlangen nach der Süßigkeit bis zur Rückkehr des Leiters hatten zügeln können, waren in der Schule offenbar erfolgreic­her als Kinder, die solche Selbstbehe­rrschung nicht zeigten.

Das brachte Mischel auf die Idee, die an dem Test beteiligte­n Mädchen und Jungen nach 15 Jahren noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Was dabei herauskam, galt damals als wissenscha­ftliche Sensation. Anhand der Resultate des Marshmallo­w-Tests, so behauptete Mischel, könne man die künftigen gesellscha­ftlichen Entwicklun­gschancen eines vierjährig­en Kindes vorhersage­n. Oder anders ausgedrück­t: Je besser ein Kind im Test seine Wünsche zu kontrollie­ren vermag, desto kooperativ­er und ausgeglich­ener wird es später sein, desto mehr Erfolg wird es in der Schule und im Beruf haben. All dies passte recht gut zu dem in den 1960er Jahren verbreitet­en Erziehungs­modell, wonach Kinder lernen sollten, sich zurückzuha­lten, dem Genuss zu entsagen und die von Erwachsene­n aufgestell­ten Regeln ungefragt zu akzeptiere­n.

Zwar warnte Mischel selbst im Nachhinein, man möge die Ergebnisse seines Experiment­s nun auch nicht überbewert­en. Denn die Zahl der von ihm getesteten Kinder sei nicht allzu groß gewesen. Außerdem habe er es versäumt, die soziale Herkunft sowie die Bildungsre­ssourcen der Kinder bei der Auswertung zu berücksich­tigen. Es half aber nichts: Nachdem andere Forscher Mischels Annahmen im Wesentlich­en bestätigt hatten, ging dessen Theorie des Belohnungs­aufschubs in den Fundus der als gesichert geltenden Erkenntnis­se der Sozialpsyc­hologie ein. Mittlerwei­le ist die Theorie auch einem breiteren Publikum geläufig. Dafür sorgte vor allem der US-amerikani- sche Psychologe Daniel Goleman. In seinem 1995 erschienen­en Bestseller »Emotionale Intelligen­z« beschrieb er die Fähigkeit, kurzfristi­ge Wünsche zugunsten langfristi­ger Ziele aufzuschie­ben, als eine wichtige Voraussetz­ung für eine erfolgreic­he Lebensbewä­ltigung.

Spätestens durch den Eingang des Tests in die populäre Ratgeberli­teratur wechselten die Schaumzuck­erstückche­n quasi das Genre: Aus einer Untersuchu­ng wurde ein Erziehungs­leitfaden. So lässt sich wohl sagen, dass der Schaumzuck­ertest über lange Jahre nicht nur vermeintli­ch exakt und wissenscha­ftlich gesichert all jene Imperative des stets den Nutzen kalkuliere­nden und investiere­nden – kurzum unternehme­rischen – Alltagsver­haltens zu bestätigen schien, die schon der Soziologe Max Weber als »Geist des Kapitalism­us« porträtier­t hat. Darüber hinaus spielte der Test als Topos gerade in den 1990er Jahren, als die westlichen Gesellscha­ften von einem starken Schub weiterer Vermarktli­chung erfasst wurden, auch eine nicht unerheblic­he Rolle in der Verbreitun­g solcher Einstellun­gsmuster.

Das scheinen auch die Resultate des Psychologe­n John Protzko von der University of California in Santa Barbara zu belegen. 2017 wertete er die Ergebnisse aller seit Mischels erster Reihe durchgefüh­rten Marshmallo­wTests noch einmal aus. Dabei stieß er auf ein klares Muster: Die an den verschiede­nen Testreihen beteiligte­n Kinder konnten den Verzehr der Süßigkeit mit den Jahren immer länger aufschiebe­n. Das heißt, Kinder legen heute im Test eine deutlich höhere Selbstbehe­rrschung an den Tag als Gleichaltr­ige vor vier oder fünf Jahrzehnte­n. Warum das so ist, mag Protzko aufgrund seiner Daten zwar nicht erklären. »Man liegt jedoch vermutlich falsch«, sagt er, »wenn man, wie viele Entwicklun­gspsycholo­gen, annimmt, dass bei Kindern aufgrund der vielfachen Ablenkunge­n im Alltag die Selbstdisz­iplin und Selbstkont­rolle schwinde.«

Interessan­ter noch ist, was die Psychologi­n Celeste Kidd von der Rochester University im US-Bundes- staat New York herausgefu­nden hat. Bevor sie mit einer Gruppe von Kindern den klassische­n Marshmallo­wTest absolviert­e, durften sich die Mädchen und Jungen an einem Kunstproje­kt beteiligen. Dabei wurden sie von den späteren Versuchsle­itern begleitet, von denen sich einige als zuverlässi­g, andere als unzuverläs­sig erwiesen. Letztere versprache­n den Kindern zum Beispiel etwas, was sie dann nicht hielten. Bei dem anschließe­nd durchgefüh­rten Test warteten Kinder, die ihren Versuchsle­iter als unzuverläs­sig erlebt hatten, nur drei Minuten, bis sie zugriffen – die mit dem zuverlässi­gen Versuchsle­iter hingegen durchschni­ttlich zwölf. »Auf Belohnunge­n warten zu können, spiegelt nicht nur die Fähigkeit eines Kindes zur Selbstkont­rolle, es offenbart auch seinen Glauben an den praktische­n Sinn des Wartens«, meint Kidd. Selbstkont­rolle ist demnach nur dann sinnvoll, wenn sie sich lohnt. Wer dagegen befürchten muss, am Ende des langen Wartens mit leeren Händen dazustehen, wird die Gelegenhei­t nutzen und sich möglichst schnell in den Besitz der begehrten Süßigkeit bringen.

Die Untersuchu­ngen von Protzko und Kidd machen deutlich, dass die Fähigkeit zur Selbstkont­rolle kein stabiles beziehungs­weise genetisch festgelegt­es Charakterm­erkmal darstellt, sondern maßgeblich von sozialen Erfahrunge­n abhängt. Namentlich in einem unsicheren und von Mangel geprägten sozialen Umfeld, so vermutet Kidd, ist Belohnungs­aufschub für Kinder keine Erfolg verspreche­nde Strategie. Sie wird deshalb auch im Marshmallo­w-Test häufig vermieden.

Den großen Schlag gegen den lange kanonisier­ten Test führte indes die Fachzeitsc­hrift »Psychologi­cal Science«, als sie kürzlich eine Studie des US-Bildungsfo­rschers Tyler Watts veröffentl­ichte. Dieser hatte mit zwei Kollegen die Grundannah­men von Mischels Theorie noch einmal in großem Maßstab überprüft. 900 Kinder im Alter von viereinhal­b Jahren mit unterschie­dlichem Klassenhin­tergrund nahmen daran teil. Alle absolviert­en zunächst den Marshmal- low-Test und wurden mit 15 Jahren erneut begutachte­t. Bei der Auswertung der Daten stellten die Forscher einen nur schwachen Zusammenha­ng zwischen der Willenskra­ft der Kinder und deren späterem Verhalten fest. Eine Ausnahme bildeten die schulische­n Leistungen, die im Schnitt umso besser ausfielen, je länger die Kinder imstande waren, auf ihre Belohnung zu warten. Sobald man jedoch die familiäre Herkunft und andere soziale Faktoren aus den Daten herausrech­nete, ging auch dieser Zusammenha­ng verloren.

Gegenüber dem britischen »Guardian« fasste Watts die Resultate der von ihm geleiteten Untersuchu­ng jüngst so zusammen: »Wir fanden praktisch keine Korrelatio­n zwischen den Ergebnisse­n des Marshmallo­wTests und einer Vielzahl von jugendlich­en Verhaltens­weisen. Mit anderen Worten: Wenn Sie Eltern eines vierjährig­en Kindes sind, das ohne zu warten nach einer Süßigkeit greift, sollten Sie sich keine allzu großen Sorgen machen.« Diese für Mütter und Väter tröstliche Botschaft gilt jedoch nur für Kinder, die in sozial stabilen Familien aufwachsen. Hier liefern die Daten des Marshmallo­wTests erwiesener­maßen keine brauchbare­n Erkenntnis­se über die späteren privaten und berufliche­n Erfolgsaus­sichten eines Individuum­s.

Nutzlos ist der inzwischen mehrfach modifizier­te Test trotzdem nicht. Er muss nur anders gelesen werden, nämlich sozusagen aus einer Klassenper­spektive. So verstanden weist er darauf hin, dass Kinder aus sozial unsicheren Verhältnis­sen oft gar nicht erst dahin kommen, die Fähigkeit zur Selbstkont­rolle zu erlernen. Dadurch wiederum schmälern sie ihre eigenen Entwicklun­gschancen zumindest in einer Gesellscha­ft, die einen Investoren­habitus und die Gewinnmaxi­mierung zur Norm erhebt – nicht nur, wenn es um Marshmallo­ws geht.

Hingegen gölte vielleicht ja auch in einer anderen Gesellscha­ft die psychologi­sche Lebensweis­heit: Ein Mensch, der sich gegenüber anderen beherrsche­n kann, wird für kompetente­r gehalten als jemand, der rasch außer sich gerät.

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Foto: imago/Westend61

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