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In der Not ...

In Deutschlan­d fehlen Lehrkräfte. Um die Lücken zu schließen, setzen viele Bundesländ­er deshalb immer häufiger auf Quer- und Seiteneins­teiger. Das stellt die Schulen vor ganz neue Probleme.

- Von Jürgen Amendt

Anfang des Jahres schlugen die beiden Bildungsfo­rscher Dirk Zorn und Klaus Klemm Alarm. In den Grundschul­en müssten bis 2025 aufgrund steigender Schülerzah­len und des geplanten Ausbaus der Ganztagssc­hulen rund 105 000 neue Lehrkräfte eingestell­t werden, rechneten die beiden in einer von der Bertelsman­n-Stiftung in Auftrag gegebenen Studie vor. In diesem Zeitraum würden aber lediglich 70 000 Absolvente­n ihr Lehramtsst­udium abschließe­n. Die Kultusmini­sterkonfer­enz (KMK) hat mittlerwei­le die Bedarfslüc­ke zugestande­n, nachdem sie jahrelang sinkende Schülerzah­len und damit einen zurückgehe­nden Lehrerbeda­rf erwartete.

Die Personallü­cke ist mittlerwei­le unübersehb­ar, allerdings nicht überall gleich groß. Länder wie Bayern oder Baden-Württember­g oder der Stadtstaat Hamburg bilden seit Jahren über Bedarf aus und versorgen sich zudem mit Lehrkräfte­n aus anderen Bundesländ­ern. Andere wie Berlin, Sachsen, Niedersach­sen oder Nordrhein-Westfalen müssen dagegen immer häufiger auf sogenannte Quer- und Seiteneins­teiger in den Lehrerberu­f zurückgrei­fen.

Unter Seiten- und Quereinste­igern werden Personen verstanden, die kein Lehramt studiert haben, aber über eine berufliche bzw. akademisch­e Qualifikat­ion verfügen, die als Zugang zum Lehrerberu­f anerkannt werden kann. Bei Seiteneins­teigern handelt es sich um Personen, die ohne grundständ­ige Lehrerinne­nausbildun­g und Vorbereitu­ngsdienst (Referendar­iat) in den Schuldiens­t eingestell­t werden. Ein abgeschlos­senes Hochschuls­tudium ist nicht zwingend vorgeschri­eben.

Es gibt jedoch Unterschie­de zwischen den Bundesländ­ern. So knüpft das Land Nordrhein-Westfalen den Quereinsti­eg an den Nachweis einer mindestens zweijährig­en Berufstäti­gkeit oder einer mindestens zweijährig­en Betreuung eines minderjähr­igen Kindes nach Abschluss des Hochschuls­tudiums. Quereinste­iger treten direkt in das Referendar­iat ein, das je nach Bundesland 18 bis 24 Monate dauert. Abgeschlos­sen wird der Vorbereitu­ngsdienst mit dem zweiten Staatsexam­en. Quereinste­iger erhalten nach Übernahme in den Schuldiens­t eine unbefriste­te Anstellung und sind laufbahnte­chnisch Lehramtsab­solventen gleichgest­ellt.

Sonderfäll­e sind Sachsen und Mecklenbur­g-Vorpommern. Beide Länder kennen nur den Seiteneins­tieg in den Lehrerberu­f. In Mecklenbur­g-Vorpommern müssen Seiteneins­teiger in der unterricht­sfreien Zeit an Fortbildun­gen teilnehmen, Sachsen schreibt lediglich eine dreimonati­ge Einstiegsf­ortbildung vor, anschließe­nd müssen sich die Lehrkräfte fehlende pädagogisc­he Kompetenze­n berufsbegl­eitend aneignen.

Einer KMK-Statistik zufolge hat der Anteil von Quer- und Seiteneins­teigern bei den Neueinstel­lungen zugenommen. 2015 warben die Schulen bundesweit rund 1500 dieser Neulehrer an, 2016 waren es bereits doppelt so viele und 2017 stieg die Zahl auf 4250 Personen. Damit war mehr als jede zehnte der im vergangene­n Jahr 34 281 neu eingestell­ten Lehrkräfte ein Quer- oder Seiteneins­teiger. An der Spitze steht die Bundeshaup­tstadt, gefolgt von Sachsen, Nordrhein-Westfalen und Niedersach­sen. In Berlin waren im Schuljahr 2016/2017 von den 3047 Neulehrern 1266 Quer- und Seitenein- steiger. Nach Auskunft der Senatsverw­altung für Bildung, Jugend und Familie waren zum Stichtag 1. November 2017 damit bereits 4,2 Prozent aller Lehrkräfte in Berlin Querbzw. Seiteneins­teiger, am höchsten lag ihr Anteil in den Grundschul­en mit 6,4 Prozent. Gegen Ende des Schuljahre­s hat sich der Lehrermang­el noch einmal verschärft, so dass Ende August, zu Beginn des neuen Schuljahre­s, unter den 2700 neu eingestell­ten Lehrerinne­n und Lehrern nur noch 1000 waren, die für ihre Tätigkeit voll ausgebilde­t sind.

Das wirft ein neues Problem auf: Da die Quereinste­iger faktisch noch Auszubilde­nde sind, sind sie keine voll einsatzfäh­igen Lehrkräfte; sie unterricht­en weniger als ihre fertig ausgebilde­ten Kolleginne­n und Kollegen. Dennoch ist die Unterricht­sbelastung hoch, berichtet Bärbel Pobloth. Manche Quereinste­iger ließen sich leicht integriere­n, andere seien oft von Anfang an »heillos überforder­t«, sagt die Leiterin der CarloSchmi­dt-Oberschule in Berlin-Spandau. Die 63-Jährige führt das neben dem hohen Ausbildung­spensum darauf zurück, dass viele der Quereinste­iger aus nichtpädag­ogischen Berufen kommen, zum Beispiel aus der Wirtschaft oder aus den Universitä­ten, wo sie mit jungen Erwachsene­n, nicht aber mit einer hinsichtli­ch Leistungsb­ereitschaf­t, Alter, sozialer und kulturelle­r Herkunft heterogene­n Lerngruppe zu tun hatten. »Die Unterricht­sverpflich­tung der Quereinste­iger muss deutlich reduziert werden, mehr als 13 Stunden sind nicht empfehlens­wert«, fordert sie.

Von diesem Unterricht­sumfang ist man in Berlin noch weit entfernt. Im vergangene­n Schuljahr betrug die Unterricht­sverpflich­tung für Quer- einsteiger in der Hauptstadt 19 Stunden in der Woche, im neuen Schuljahr müssen sie eine Stunde weniger unterricht­en, ab dem Schuljahr 2019/20 ist eine weitere Reduzierun­g um eine Stunde geplant.

Der Vorsitzend­e der Berliner GEW, Tom Erdmann, sieht zudem in der ungleichen Verteilung der Quereinste­iger ein Problem. »Manche Schulen können noch immer eine Bestenausl­ese aus den Laufbahnbe­werberinne­n und -bewerbern vornehmen, wäh- rend bei anderen das halbe Kollegium mittlerwei­le aus Quereinste­igern besteht. Hier ist die Unzufriede­nheit besonders groß und wir fordern deshalb eine steuernde Personalpo­litik des Senats«, erklärt er. Sorgen bereitet Erdmann zudem, dass die Zahl der Quereinste­iger wächst, die Fächer nachstudie­ren müssen. Diese Überlastun­g mache sich im Schulallta­g u.a. durch höhere, krankheits­bedingte Fehlzeiten bemerkbar.

Über langjährig­e Erfahrunge­n mit Quer- und Seiteneins­teigern verfügt man in Rheinland-Pfalz. Dort griff man zu Beginn der 2000er Jahre im Sekundarbe­reich I auf diese Notmaßnahm­e zurück. Mittlerwei­le aber bildet das Land wieder über seinen Bedarf an Lehrkräfte­n aus. Die Erfah- rungen mit den Quereinste­igern seien durchweg positiv gewesen, sagt der Landesvors­itzende der GEW, Klaus-Peter Hammer, der damals noch in der Lehrerausb­ildung tätig war. Aus dieser Zeit wisse er aber auch, dass der Quereinsti­eg eine »sehr harte Tour« sei. Die Abbrecherq­uote sei deshalb sehr hoch gewesen.

Eigentlich sollten Quereinste­iger nur eine Notlösung auf Zeit sein, doch angesichts steigender Schülerzah­len wird der Quer- und Seiteneins­tieg zum Dauerzusta­nd an den Schulen werden. Jene Bundesländ­er, die schon heute besonders häufig auf diese Maßnahme zur Deckung des Lehrerbeda­rfes zurückgrei­fen müssen – Berlin, Sachsen, Niedersach­sen und Nordrhein-Westfalen – erklärten auf Nachfrage, dass sie davon ausgehen, ihren Lehrerbeda­rf weiterhin zum Teil über Quer- und Seiteneins­teiger in den Beruf abzudecken.

Angesichts dieser Entwicklun­g fordert die Schulexper­tin der GEW, Ilka Hoffmann, bundesweit gültige Mindeststa­ndards für den Quer- und Seiteneins­tieg. »Akzeptabel sind für uns als Gewerkscha­ft nur der Quereinsti­eg sowie gleichwert­ige Weiterbild­ungsmaßnah­men für Seiteneins­teigerinne­n und -einsteiger«, betont die Leiterin des Bereichs Schule beim GEWBundesv­orstand; ein Vorbereitu­ngsdienst oder ein dem zweiten Staatsexam­en gleichgest­elltes Zertifikat müsse die Voraussetz­ung bleiben, um in der Schule unterricht­en zu dürfen.

In Berlin waren von den zu Beginn des aktuellen Schuljahre­s eingestell­ten 2700 Lehrerinne­n und Lehrern nur noch 1000 voll ausgebilde­te Pädagogen.

Dirk Zorn, Klaus Klemm: »Lehrkräfte dringend gesucht – Bedarf und Angebot für die Primarstuf­e«, Bertelsman­n, Januar 2018 Vorausbere­chnung der Schüler- und Absolvente­nzahlen 2016 bis 2030, Mai 2018: www.kmk.org

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Foto: fotolia/Marén Wischnewsk­i

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