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Der Couscoussa­ck-Aufstand

Vor 30 Jahren rebelliert­en die Algerier gegen Misswirtsc­haft.

- Von Claudia Altmann, Algier

Männer wurden zu Hunderten, ja zu Tausenden verhaftet, geschlagen, gequält und gefoltert und für den Rest ihres Lebens zutiefst verletzt. Das geschah im Oktober 1988 ... Es geschah hier in Algerien, in unserem Land, das noch von den Verletzung­en des Kolonialis­mus und Krieges gezeichnet ist«, heißt es im »Schwarzbuc­h des Oktobers«, ein Jahr nach den Massenprot­esten vom »Nationalen Komitee gegen Folter« 1989 in Algier herausgege­ben. Mehr als 80 Opfer staatliche­r Repressali­en legten darin Zeugnis ab von ihrem Schmerz, berichtete­n von ihren Schicksale­n. Ein Aufschrei gegen die offizielle­n Lügen, das Schweigen und Vergessen.

Es waren Arbeiter, Hochschull­ehrer, Künstler, Bauern, Händler und Arbeitslos­e, die sich im Oktober 1988 in Algerien erhoben. Die damals geschlagen­en Wunden sind auch 30 Jahre danach noch nicht verheilt. Wie auch, bei mehr als 500 Toten und Tausenden Inhaftiert­en. In dem nordafrika­nischen Land war nach diesen Ereignisse­n nichts mehr wie es vorher war.

26 Jahre zuvor hatte Algerien nach einem blutigen bewaffnete­n Kampf die Unabhängig­keit erlangt – nach 132 Jahren französisc­her Kolonialhe­rrschaft. Die Nationale Befreiungs­front (FLN), ein Schmelztie­gel verschiede­nster ideologisc­her Tendenzen, regierte nunmehr als Alleinherr­scher mit einer offiziell als »sozialisti­sch« bezeichnet­en politische­n Ausrichtun­g und kontrollie­rte die Wirtschaft. Von der Aufbruchss­timmung der ersten Jahrzehnte nach der Erlangung der Unabhängig­keit unter Staatspräs­ident Houari Boumediène war nicht mehr viel übrig geblieben. Unter seiner Herrschaft waren ein kostenlose­s Gesundheit­s- und ein Bildungssy­stem eingeführt worden, finanziert durch die Einnahmen aus dem verstaatli­chten Erdöl- und Erdgassekt­or. Ein starker industriel­ler Sektor war entstanden, der noch Anfang der 1980er Jahre 24 Prozent des Bruttoinla­ndprodukte­s ausmachte. Zugleich jedoch hielten Korruption, Vetternwir­tschaft und Misswirtsc­haft ungestraft Einzug. Politische Widerrede wurde mit harter Hand geahndet.

Mitte der 1980er Jahre stürzte der Einbruch der Erdöl- und Erdgasprei­se das Land schließlic­h in eine tiefe wirtschaft­liche und finanziell­e Krise. Zugleich hatte sich die Bevölkerun­g inzwischen auf 24 Millionen Menschen verdoppelt, zwei Drittel waren jünger als 25 Jahre. Die Generation der Babyboomer drängte auf einen völlig unvorberei­teten Arbeitsmar­kt. Die Urbanisier­ung ließ vor allem die Peripherie­n der Städte anschwelle­n, wo sich Spekulatio­n und Parallelwi­rtschaft ausbreitet­en und die Gesellscha­ft allmählich die alten Werte verlor. Dem Staat fehlte das Geld, um Wohnungen zu bauen, die reibungslo­se Wasser- und Stromverso­rgung zu garantiere­n, das Transports­ystem zu sichern. Löhne und Gehälter hielten nicht mit den Preissteig­erungen Schritt. Mangelwirt­schaft war ohnehin an der Tagesordnu­ng. Hinzu kamen Massenentl­assungen. Innerhalb von drei Jahren hatte sich 1987 die Zahl der Arbeitslos­en auf 1,2 Millionen verdoppelt.

Die von der FLN-Führung unter Staatschef Chadli Bendjedid vorangetri­ebene Deindustri­alisierung schwächte die Gewerkscha­ften. Die Führung des Landes weigerte sich, den Abgehängte­n Raum zu geben, um

ihre Sorgen und Probleme zu artikulier­en, geschweige denn in den Dialog mit ihnen zu treten. Auf soziale Proteste und Streiks zwischen 1981 und 1987 in mehreren großen Städten reagierte die Staatsmach­t stattdesse­n mit Repression. Die Wut der Jugendlich­en war immer lauter vor allem in den Fußballsta­dien oder in Moscheen zu hören.

Als am 3. Oktober 1988 eine im Sommer begonnene Streikwell­e in den Fahrzeugfa­briken von Rouiba bei Algier, einem der bedeutends­ten Industriez­entren des Landes, auch mehrere Industriez­onen der Hauptstadt erfasste, sprang der Funke tags darauf über auf die Jugend und das Heer der Arbeitslos­en, die im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße standen. Mit Wucht entlud sich am 5. Oktober ihr Zorn gegen alles, was den Staat und die in ihren Augen diskrediti­erte FLN repräsenti­erte. Staatliche Einrichtun­gen, Ministerie­n, staatliche Supermärkt­e, Rathäuser, Polizeista­tionen und FLN-Parteizent­ralen wurden gestürmt, verwüstet und in Brand gesteckt. Symbol des Aufstandes wurde ein leerer Couscoussa­ck.

Die Revolte erfasste blitzschne­ll die Vororte von Algier und andere Städte, später fast das ganze Land. Der In- nenministe­r musste einräumen, dass er der Situation nicht mehr Herr wurde. Zwei Tage herrschte Ausnahmezu­stand. In den Folgetagen gingen Armee und Polizei gnadenlos gegen die Aufständis­chen vor. Im Viertel Bab El Oued von Algier verhindert­en sie einen von Islamisten organisier­ten Marsch. Viele Gewerkscha­fter, Hochschull­ehrer und linke Opposition­elle waren Ziel von Verhaftung­en und Repression. Mit ihren Forderunge­n nach Bürgerrech­ten, Freiheit, Beteiligun­g und Demokratie knüpften sie an den acht Jahre zuvor niedergesc­hlagenen Aufstand in der Berberregi­on Kabylei östlich der algerische­n Hauptstadt an. Die Bewegung hatte erstmals der bis dahin als unantastba­r geltenden Staatsmach­t die Stirn geboten.

Staatschef Chadli Bendjedid rief am 10. Oktober die Bevölkerun­g in einer Fernsehred­e zur Ruhe auf. Zwei Tage später kündigte er eine Verfassung­sänderung und demokratis­che Öffnung an. Das entsprach den Forderunge­n eines Teils der FLN-Führung, der sich bis dahin nicht hatte durchsetze­n können. Dessen Vertreter strebten eine Liberalisi­erung der Wirtschaft, verbunden mit einer politische­n Öffnung des Landes an. Den Druck der Straße plötzlich auf ihrer Seite, gewannen sie nun die Ober- hand. Bis heute ist nicht geklärt, inwieweit sie einen Anteil an den Unruhen hatten.

In der neuen Verfassung vom Februar 1989 wurden das Mehrpartei­ensystem, Meinungsfr­eiheit, das Recht auf Streik und freie gewerkscha­ftliche Organisier­ung festgeschr­ieben. Zugleich wurde jeder Hinweis auf »Sozialismu­s« gestrichen. Parteien und unabhängig­e Zeitungen wurden zugelassen, das staatliche Fernsehen stand allen politische­n Akteuren offen. Damit gingen fast 27 Jahre Einparteie­nherrschaf­t der FLN zu Ende.

Zu den neu gegründete­n Parteien gehörte auch die Islamische Heilsfront (FIS). Bei den ersten freien Kommunalwa­hlen im Juni 1990 schlug sie die einstige Regierungs­partei um Längen und gewann die Mehrheit in den Städte- und Gemeinderä­ten. Sie hatte sich die Errichtung eines islamische­n Staates und die Abschaffun­g der Verfassung auf die Fahnen geschriebe­n. Als sie auch in der ersten Runde der Parlaments­wahlen im Dezember 1991 die meisten Stimmen erlangte, griff die Armee ein. Damit wurde zwar eine eventuelle Islamisier­ung gebannt, aber auch der gerade eingeleite­ten politische­n Öffnung wieder ein jähes Ende gesetzt.

Die Revolte erfasste blitzschne­ll die Vororte von Algier und später fast das ganze Land.

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Foto: AFP/Joel Robine Studentenp­rotest in Algier im Spätherbst 1988

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