Der Couscoussack-Aufstand
Vor 30 Jahren rebellierten die Algerier gegen Misswirtschaft.
Männer wurden zu Hunderten, ja zu Tausenden verhaftet, geschlagen, gequält und gefoltert und für den Rest ihres Lebens zutiefst verletzt. Das geschah im Oktober 1988 ... Es geschah hier in Algerien, in unserem Land, das noch von den Verletzungen des Kolonialismus und Krieges gezeichnet ist«, heißt es im »Schwarzbuch des Oktobers«, ein Jahr nach den Massenprotesten vom »Nationalen Komitee gegen Folter« 1989 in Algier herausgegeben. Mehr als 80 Opfer staatlicher Repressalien legten darin Zeugnis ab von ihrem Schmerz, berichteten von ihren Schicksalen. Ein Aufschrei gegen die offiziellen Lügen, das Schweigen und Vergessen.
Es waren Arbeiter, Hochschullehrer, Künstler, Bauern, Händler und Arbeitslose, die sich im Oktober 1988 in Algerien erhoben. Die damals geschlagenen Wunden sind auch 30 Jahre danach noch nicht verheilt. Wie auch, bei mehr als 500 Toten und Tausenden Inhaftierten. In dem nordafrikanischen Land war nach diesen Ereignissen nichts mehr wie es vorher war.
26 Jahre zuvor hatte Algerien nach einem blutigen bewaffneten Kampf die Unabhängigkeit erlangt – nach 132 Jahren französischer Kolonialherrschaft. Die Nationale Befreiungsfront (FLN), ein Schmelztiegel verschiedenster ideologischer Tendenzen, regierte nunmehr als Alleinherrscher mit einer offiziell als »sozialistisch« bezeichneten politischen Ausrichtung und kontrollierte die Wirtschaft. Von der Aufbruchsstimmung der ersten Jahrzehnte nach der Erlangung der Unabhängigkeit unter Staatspräsident Houari Boumediène war nicht mehr viel übrig geblieben. Unter seiner Herrschaft waren ein kostenloses Gesundheits- und ein Bildungssystem eingeführt worden, finanziert durch die Einnahmen aus dem verstaatlichten Erdöl- und Erdgassektor. Ein starker industrieller Sektor war entstanden, der noch Anfang der 1980er Jahre 24 Prozent des Bruttoinlandproduktes ausmachte. Zugleich jedoch hielten Korruption, Vetternwirtschaft und Misswirtschaft ungestraft Einzug. Politische Widerrede wurde mit harter Hand geahndet.
Mitte der 1980er Jahre stürzte der Einbruch der Erdöl- und Erdgaspreise das Land schließlich in eine tiefe wirtschaftliche und finanzielle Krise. Zugleich hatte sich die Bevölkerung inzwischen auf 24 Millionen Menschen verdoppelt, zwei Drittel waren jünger als 25 Jahre. Die Generation der Babyboomer drängte auf einen völlig unvorbereiteten Arbeitsmarkt. Die Urbanisierung ließ vor allem die Peripherien der Städte anschwellen, wo sich Spekulation und Parallelwirtschaft ausbreiteten und die Gesellschaft allmählich die alten Werte verlor. Dem Staat fehlte das Geld, um Wohnungen zu bauen, die reibungslose Wasser- und Stromversorgung zu garantieren, das Transportsystem zu sichern. Löhne und Gehälter hielten nicht mit den Preissteigerungen Schritt. Mangelwirtschaft war ohnehin an der Tagesordnung. Hinzu kamen Massenentlassungen. Innerhalb von drei Jahren hatte sich 1987 die Zahl der Arbeitslosen auf 1,2 Millionen verdoppelt.
Die von der FLN-Führung unter Staatschef Chadli Bendjedid vorangetriebene Deindustrialisierung schwächte die Gewerkschaften. Die Führung des Landes weigerte sich, den Abgehängten Raum zu geben, um
ihre Sorgen und Probleme zu artikulieren, geschweige denn in den Dialog mit ihnen zu treten. Auf soziale Proteste und Streiks zwischen 1981 und 1987 in mehreren großen Städten reagierte die Staatsmacht stattdessen mit Repression. Die Wut der Jugendlichen war immer lauter vor allem in den Fußballstadien oder in Moscheen zu hören.
Als am 3. Oktober 1988 eine im Sommer begonnene Streikwelle in den Fahrzeugfabriken von Rouiba bei Algier, einem der bedeutendsten Industriezentren des Landes, auch mehrere Industriezonen der Hauptstadt erfasste, sprang der Funke tags darauf über auf die Jugend und das Heer der Arbeitslosen, die im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße standen. Mit Wucht entlud sich am 5. Oktober ihr Zorn gegen alles, was den Staat und die in ihren Augen diskreditierte FLN repräsentierte. Staatliche Einrichtungen, Ministerien, staatliche Supermärkte, Rathäuser, Polizeistationen und FLN-Parteizentralen wurden gestürmt, verwüstet und in Brand gesteckt. Symbol des Aufstandes wurde ein leerer Couscoussack.
Die Revolte erfasste blitzschnell die Vororte von Algier und andere Städte, später fast das ganze Land. Der In- nenminister musste einräumen, dass er der Situation nicht mehr Herr wurde. Zwei Tage herrschte Ausnahmezustand. In den Folgetagen gingen Armee und Polizei gnadenlos gegen die Aufständischen vor. Im Viertel Bab El Oued von Algier verhinderten sie einen von Islamisten organisierten Marsch. Viele Gewerkschafter, Hochschullehrer und linke Oppositionelle waren Ziel von Verhaftungen und Repression. Mit ihren Forderungen nach Bürgerrechten, Freiheit, Beteiligung und Demokratie knüpften sie an den acht Jahre zuvor niedergeschlagenen Aufstand in der Berberregion Kabylei östlich der algerischen Hauptstadt an. Die Bewegung hatte erstmals der bis dahin als unantastbar geltenden Staatsmacht die Stirn geboten.
Staatschef Chadli Bendjedid rief am 10. Oktober die Bevölkerung in einer Fernsehrede zur Ruhe auf. Zwei Tage später kündigte er eine Verfassungsänderung und demokratische Öffnung an. Das entsprach den Forderungen eines Teils der FLN-Führung, der sich bis dahin nicht hatte durchsetzen können. Dessen Vertreter strebten eine Liberalisierung der Wirtschaft, verbunden mit einer politischen Öffnung des Landes an. Den Druck der Straße plötzlich auf ihrer Seite, gewannen sie nun die Ober- hand. Bis heute ist nicht geklärt, inwieweit sie einen Anteil an den Unruhen hatten.
In der neuen Verfassung vom Februar 1989 wurden das Mehrparteiensystem, Meinungsfreiheit, das Recht auf Streik und freie gewerkschaftliche Organisierung festgeschrieben. Zugleich wurde jeder Hinweis auf »Sozialismus« gestrichen. Parteien und unabhängige Zeitungen wurden zugelassen, das staatliche Fernsehen stand allen politischen Akteuren offen. Damit gingen fast 27 Jahre Einparteienherrschaft der FLN zu Ende.
Zu den neu gegründeten Parteien gehörte auch die Islamische Heilsfront (FIS). Bei den ersten freien Kommunalwahlen im Juni 1990 schlug sie die einstige Regierungspartei um Längen und gewann die Mehrheit in den Städte- und Gemeinderäten. Sie hatte sich die Errichtung eines islamischen Staates und die Abschaffung der Verfassung auf die Fahnen geschrieben. Als sie auch in der ersten Runde der Parlamentswahlen im Dezember 1991 die meisten Stimmen erlangte, griff die Armee ein. Damit wurde zwar eine eventuelle Islamisierung gebannt, aber auch der gerade eingeleiteten politischen Öffnung wieder ein jähes Ende gesetzt.
Die Revolte erfasste blitzschnell die Vororte von Algier und später fast das ganze Land.