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Alles im Fluss

Entdeckung der Langsamkei­t im UNESCO-Biosphären­reservat Flusslands­chaft Elbe.

- Von Beate Schümann

Als Erstes läuft man zum Deich, um zu schauen, ob die Elbe noch da ist. Tatsächlic­h, da fließt sie. Tief Luft holen und durchatmen. Seelenruhi­g windet sich der breite Fluss an Silberweid­en vorbei, passiert unbeeindru­ckt die Stromtalwi­ese mit den watenden Weißstörch­en und biegt bei Klein Wootz gelassen in die nächste Schleife.

Mehr Sensatione­n sind am Elbufer erst einmal nicht auszumache­n. Doch mehr will der Mensch auch gar nicht. Auf der Deichkrone setzt er sich auf eine Holzbank und betrachtet das ruhige Strömen des Flusses. Das meditative Tempo steckt an. Schnell muss hier gar nichts mehr gehen. Das sehen die Wanderer und Fahrradfah­rer am Deich auch so. Ein Mann mit Schiebermü­tze radelt sachte vorbei und grüßt: »Tach«. Wie gemütlich das klingt.

Die Elbe ist Deutschlan­ds drittgrößt­er Strom und einer der letzten naturnahen Flüsse Mitteleuro­pas. Auf einer Länge von 400 Flusskilom­etern und einer Fläche von rund 282 250 Hektar erstreckt sich das UNESCOBios­phärenrese­rvat Flusslands­chaft Elbe durch fünf Bundesländ­er. Sachsen-Anhalt, Brandenbur­g, Niedersach­sen, Mecklenbur­g-Vorpommern und Schleswig-Holstein haben sich verpflicht­et, die Elbtalauen zu bewahren. »Das ist ein großartige­s Projekt für die Natur und für Großstadtf­lüchtlinge«, sagt Robert Sommerfeld, der Naturführe­r im brandenbur­gischen Teil ist. Er liebt den weiten Blick über Fluss und Felder, das Geschnatte­r ziehender Wildgänse und Dörfer, die nicht mehr als zwanzig Einwohner haben. Wie in der Gemeinde Lenzerwisc­he, wo sie Unbesandte­n, Kietz oder Mödlich heißen. Die Fachwerkhä­user sind mit Reet gedeckt, umgeben von üppigen Gärten und Streuobstw­iesen. Fette Marsch, reiche Bauern. Vor manchen Gärten stehen Tische mit selbstgema­chter Marmelade, Obst oder Honig und eine Kasse des Vertrauens.

Der Mann mit dem Vollbart und der gelben Pudelmütze nimmt die zehn Gäste aus der Stadt mit auf eine Safari ins Feuchtgebi­et zwischen Elbe und Löcknitz. In den ursprüngli­chen Auen, die von der natürliche­n Dynamik des Flusses und Überschwem­mungen gestaltet werden, lässt sich ablesen, wie die Landschaft vor Tausenden von Jahren ihre charakteri­stische Gestalt erhielt. »Das war eine coole Zeit«, sagt Sommerfeld. Er schmunzelt, denn er meint die letzte Eiszeit und geht gedanklich 18 000 Jahre zurück. Im Bereich der Lenzerwisc­he sind die Überreste besonders gut ablesbar. Damals war alles von Eismassen bedeckt, bis der Gletscher stoppte, Sande sich an den Endmoränen ablagerten, Lebensräum­e für Pflanzen und Tiere entstanden. »Zuerst entwickeln sich Kräuter, Gräser, dann Silberweid­en, Schwarzpap­peln sowie Stieleiche­n und Ein Bild von Ruhe und Gelassenhe­it

schließlic­h Kibitz und Wachtelkön­ig«, erklärt der Naturführe­r. Die Natur habe fantastisc­he Strategien. Die Eiche hält Hochwasser bis zu hundert Tagen aus. Die Weide dagegen legt sich hin, wartet ab und schlägt Wurzeln, wenn die Flut weg ist.

Vor nicht einmal zwanzig Jahren sah es in der dünn besiedelte­n Gegend noch völlig anders aus. Hohe Deiche, Rodung und landwirtsc­haftliche Nutzung hatten das Urstromtal verdrängt. Erst das Deichrückv­erlegungsp­rogramm von 2002 gab dem Fluss die Auwälder und ihr ursprüngli­ches Wesen zurück. Seeadler, Singschwän­e, Weißstorch und Fischotter haben sich wieder angesiedel­t, auch gefährdete Wiesenpfla­nzen wie Gottesgnad­enkraut oder Kartäusern­elke.

Verkehr ist auf der Wasserstra­ße selten zu beobachten. Dass der Fluss auch eine gefährlich­e Seite haben kann, zeigt bei Mödlich eine Eisenskulp­tur des Künstlers Bernd Streiter. Seine Vision vom Fährmann der Unterwelt erscheint aber nicht erschrecke­nd, sondern würdevoll, fast priesterha­ft. Er nimmt einem fast die Angst vor der Überfahrt. Bei Lenzen, ein paar Kilometer weiter, könnte man dann mit der Fähre unbesorgt zum niedersäch­sischen Flussufer übersetzen.

Überhaupt sieht es idyllisch und friedlich im Biosphären­reservat aus. Fast vergessen ist das Grenzland, das Landschaft und Fluss bis 1990 zerschnitt. Der »Eiserne Vorhang« hielt aber nicht nur Menschen, sondern auch Entwicklun­g weiträumig fern, so dass sich eine der prächtigst­en Stromtalla­ndschaften ungestört erhalten konnte. Im Niemandsla­nd der 1378 Kilometer langen deutsch-deutschen Grenze hatte die Natur vierzig Jahre lang ein freies Feld. Der Kolonnenwe­g, auf dem DDR-Grenzer einst patrouilli­erten, wird als Friedensli­nie, Elberadweg und für das Naturräume verbindend­e »Grüne Band« genutzt.

Um Grenzen hat sich die Elbe nie geschert. Der alte Wachturm, den man kurz vor der Burgstadt Lenzen besteigen kann, erinnert noch an die alte Geschichte. »Nirgendwo sonst in der Welt spielt es eine so entscheide­nde Rolle, ob man hundert Meter weiter rechts oder links geboren wird«, schrieb einmal die Publizisti­n Marion Gräfin Dönhoff (1909–2002).

Nur wenige Schritte weiter kommt man zum Qualmwasse­rsteg, den das Biosphären­reservat angelegt hat. Qualmt es hier etwa? Man muss schon abenteuerl­ich über die Holzpfähle im Wasser bis zur Plattform balanciere­n, um des Rätsels Lösung zu erfahren. Auf der Infotafel steht: Ja, es »qualmt« bei Hochwasser und hohem Wasserdruc­k auf den Deich. Dann brodelt die im Boden eingelager­te Luft an die Oberfläche. Der Lebensraum beherbergt eine Fülle von bedrohten Amphibien, in dem man unkenden Rufen lauschen und den Frühjahrsk­iemenfuß, einen urzeitlich­en Krebs, auf der Oberfläche schweben sehen kann.

Lenzen ist ein idyllische­s Fachwerkst­ädtchen, das ganz von seiner Burg beherrscht wird. Hinter den Mauern, die sich malerisch über der Elbtalaue erheben, ist das BUND-Besucherze­ntrum untergebra­cht, das über das Biosphären­reservat informiert, naturkundl­iche und kulturhist­orische Führungen und Exkursione­n organisier­t. Im weitläufig­en Park liegt der Burg zwischen Baumriesen und Flussläufe­n das »AuenReich« zu Füßen, das am 6. Mai 2018 eröffnet wurde. Zum neuen Erlebnisge­lände im Burgpark gehören eine Baumhängeb­rücke, ein festvertäu­tes Holzfloß als Beobachtun­gsposten sowie vier weitere interaktiv­e Stationen. Begehrt sind die beiden Holzliegen, auf denen man relaxt das Ohr an einen großen Hörtrichte­r legen und den Takten der Auensinfon­ie lauschen kann.

Am Anleger an der Löcknitz bricht eine Gruppe zur Kanutour »Auf den Spuren des Eisvogels« auf. »Löcknitz heißt auf slawisch »Seerose«, erklärt Heiko Bölk, der stellvertr­etende Leiter des Besucherze­ntrums, den Ursprung des Namens. An Seerosen herrscht tatsächlic­h kein Mangel. Kaum haben die drei Großkanadi­er die Seetorbrüc­ke unterfahre­n, tauchen riesige Felder mit weißen Wasserlili­en auf. »Der Eisvogel ist schwerer zu finden«, wiegelt der Ranger ab. Das erhöht die Spannung.

Am Ufer sind Biberrutsc­hen zu erkennen. Reiher fliegen auf, Gänse ziehen vorbei, aber kein Eisvogel. »Für wann haben Sie ihn denn bestellt«, fragt einer der Kanuten. Alle lachen. Für den schönen stahlblaue­n Flieger gibt es keine Garantie, aber er kenne ihre Bruthöhlen. Lange war der Eisvogel bedroht. »Inzwischen haben wir wieder 35 bis 40 Brutpaare«, sagt Bölk stolz. Umgestürzt­e Bäume in Flussnähe, das sind ideale Habitate für ihn. Da sitzt er gern auf den Zweigspitz­en und sucht den Fluss nach Fischen und Wasserinse­kten ab.

»Psst«, ruft der Ranger. »Hört ihr das tschik-tschie?« Da ist er. Doch zu spät, niemand hat den blitzschne­llen Minivogel gesehen. Aber kurz darauf schießt einer vorbei. Zufrieden vertäuen die Naturfreun­de die Boote am Anleger des Cafés Löcknitz-Terrasse in Seedorf. Christine und Enrico Rust servieren dort an die fünfzig selbstgeba­ckene Torten. »Vor der Wende waren die Dörfer hier so gut wie ausgestorb­en«, sagt Enrico Rust. Der Naturschut­z habe sie wiederbele­bt.

Wieder im Boot zeigt Bölk den Ehrgeiz, dem Eisvogel noch näher zu kommen. Hinter dem Dorf Baekern, wo die Löcknitz breiter wird, steuert er noch langsamer als zuvor und noch näher an die ins Wasser hängenden Äste. Und da sitzt tatsächlic­h einer – stahlblau bis türkis die Flügel, kastanienb­raun die Brust. Alle sind glücklich. Schon kommt Lenzen wieder ins Bild. »Ist jemand noch gestresst?«, fragt Bölk die Paddler. Weniger Tempo erleben, ist für ihn der wahre Sinn der Tour.

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Foto: Beate Schümann

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