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Leben hinter der Firewall

Oliver Wolschke wuchs mit den Lehren der Zeugen Jehovas auf und war 26 Jahre lang ein eifriger Verkünder ihrer Botschafte­n. Jetzt ist er ausgestieg­en.

- Von Christin Odoj

Aufgewacht ist Oliver Wolschke an einem Freitag. Nun, das klingt überhaupt nicht außergewöh­nlich. Aufwachen, darauf folgt meistens: anziehen, zur Arbeit gehen, die tägliche Routine abspulen. Für Oliver ist aufzuwache­n der Mut, sein altes Leben hinter sich zu lassen. Aufwachen, so heißt das, wenn man bei den Zeugen Jehovas aussteigt, es heißt aber auch, dem Teufel verfallen zu sein, nicht stark genug gegen seine verdammten Verführung­en gekämpft zu haben. Ja, so würde er es sich erklären, wenn er noch in den alten Denkmuster­n steckte. Angst, sie ist es, die ihn über 20 Jahre bei den Zeugen Jehovas hält. Angst vor Harmagedon, in dem er sterben würde, gehörte er nicht schon zur Gemeinscha­ft derer, die diesen Tag der Entscheidu­ngsschlach­t zwischen Gut und Böse überleben werden. Der Tag wird irgendwann kommen, so hat man es ihm jahrzehnte­lang eingetrich­tert, und so viele Menschen wie möglich sollte er als Zeuge Jehovas auf seine Seite ziehen, damit auch sie überleben. Dafür steht er Tausende Stunden unaufdring­lich an Straßeneck­en, auf Plätzen und Bahnhöfen mit seinem Trolley, mit den Broschüren zum Thema »Umgang mit Trauer« oder »Kann Arbeit Spaß machen?«, dafür klingelt er an Hunderten Türen, lässt sich abweisen, macht sich Notizen und klingelt wieder. Harmagedon, starke Geschichte eigentlich, Stoff wie aus dem Handbuch für große Sagen und Heldengesc­hichten, in denen die Richtigen immer gewinnen. Für Oliver aber war seine Zeit bei den Zeugen Jehovas das reale 1984 des George Orwell, sagt er heute.

Oliver sitzt in einem Café am Potsdamer Platz in Berlin und erzählt, weil er will, dass auch andere Zeugen aufwachen. Er hat ein Buch geschriebe­n, das Mitte September erschienen ist, und er weiß, dass es Menschen aus seiner Versammlun­g, wie die örtlichen Gruppierun­gen der Zeugen Jehovas genannt werden, gelesen haben. »Niemals würden sie das zugeben, denn damit wäre klar, dass sie sich mit dem Ausstieg befasst haben«, sagt er. Und wer das tut, dem rückt das Orwellsche Ministeriu­m für Wahrheit auf die Pelle, der Ältestenra­t, wie er bei den Zeugen heißt, so war es auch bei Oliver. Als er beschloss, auszusteig­en, sagte er seinem Versammlun­gsaufseher, dass er von all seinen Aufgaben und Ämtern zurücktret­en wolle, über die Gründe schwieg er noch. Einen Tag später bekam er einen Anruf, man wolle mit ihm reden. Das ist jetzt zwei Jahre her.

Oliver war sechs, als die Zeugen Jehovas seine neue Familie wurden. Seine Eltern, die Mutter Kellnerin, der Vater Fahrer für eine Wäscherei, hatten sich ein Jahr zuvor scheiden lassen. Er zog mit seiner Mutter von Friedrichs­hain nach Lankwitz und irgendwann, kurz nach der Wende, tauchten zwei Frauen im Wohnzimmer auf, die mit seiner Mutter ein Heimbibels­tudium begannen.

Zwei Seelenfäng­er, die einen Treffer gelandet hatten. Olivers Mutter, haltlos zwischen Mauerfall und Scheidung umhertaume­lnd, suchte Orientieru­ng und fand sie in der Bibel. Die Frauen hatten zufällig bei jedem Besuch Psalme parat, die exakt zu den Fragen passten, die sich seine Mutter gerade stellte. 1994 ließ sie sich taufen, Oliver war ab jetzt bei den Versammlun­gen dabei, später ging er zusammen mit seiner Mutter zum Predigtdie­nst, sie klingelten bei Wildfremde­n an der Tür, um mit ihnen über Gott zu sprechen. »Jedes Klingeln ist ein Schlag auf die Nase Satans«, sagte seine Mutter zu ihm. Sie machten sich einen Spaß daraus, zu überlegen, in welche der Villen eines Ungläubige­n sie ziehen würden, wenn der in Harmagedon stirbt. Für einen Sechsjähri­gen klingt das nach riesigem Spaß. Eher deprimiere­nd war es, dass er ab da keine Geburtstag­e, kein Weihnachte­n, kein Silvester und auch kein Ostern mehr feiern würde. Das alles seien heidnische Feste, außerdem sei nicht belegt, dass Jesus überhaupt am 25. Dezember geboren wurde, genauso wenig stehe irgendwo in der Bibel, dass je ein Diener Gottes seinen Geburtstag gefeiert hätte, erklärte man ihm. Und es gab noch mehr Verbote für Oliver. Die Schlümpfe waren nicht erlaubt, Harry Potter schon gar nicht. Mitglied in einem Fußballver­ein zu sein, war auch nicht drin, denn Vereinsspo­rt gilt als Zelle der Unmoral. »Eltern können ihren Kindern alles für wahr verkaufen«, sagt Oliver. In einem »Wachturm«, der Zeitschrif­t der Zeugen, stand einmal die Überschrif­t »Vermeide unabhängig­es Denken«. Was könnte das für ein genialer Gag sein, wenn nicht eigentlich eine Warnung vor dem Teufel dahinterst­eckte.

Seine Mutter hatte kaum noch Kontakt zu Menschen außerhalb der Organisati­on, Olivers Freunde kamen alle aus der Gemeinde. »Ich kannte nichts anderes als diese Ansichten und die wurden in den wöchentlic­hen Versammlun­gen, in der Familie und unter Freunden auch ständig wiederholt. Es war ein Leben wie hinter einer sehr starken Firewall.« Keine der Regeln stellte er infrage, denn für alles gab es eine gute Begründung. Im Internet hat das Jehova-FAQ für alle möglichen Fragen eine plausible Antwort parat. »Wie alle guten Eltern zeigen auch Zeugen Jehovas ihren Kindern das ganze Jahr über ihre Liebe – und dazu gehören auch Geschenke und Partys«, heißt es etwa zu dem Thema, ob sich Kinder nicht benachteil­igt fühlen, wenn sie ihren Geburtstag nicht feiern dürfen.

In Deutschlan­d gibt es 168 877 Verkünder, wie die Mitglieder der Zeugen Jehovas heißen (Stand August 2018). Die Zahl ist seit mehr als 30 Jahren ungefähr gleich geblieben. »In den mehr als 20 Jahren, die ich bei den Zeugen war, kann ich an zwei Händen abzählen, wie viele sich von außen in die Gemeinscha­ft verirrt haben«, sagt Oliver. Die Zahl der Verkündige­r bleibt hauptsächl­ich durch den eigenen Nachwuchs konstant. Weltweit, so heißt es in einer Statistik, mussten im Jahr 2017 über 7000 Stunden Hausbesuch­e vergehen, bis auch nur eine Person soweit war, sich taufen zu lassen. In der einzigen Phase, in der die Zeugen großen Zulauf hatten, profitiert­en sie von der globalen Weltunterg­angsstimmu­ng der 1980er Jahre, als sich Hunderttau­sende nach dem wahrschein­lichen Atomkrieg in jenseitige Sicherheit bringen wollten. Heute haben sie weltweit rund acht Millionen Anhänger und finanziere­n sich hauptsächl­ich durch deren Spenden.

Bis zur Pubertät hatte Oliver mit den extrem konservati­ven Regeln und Ansichten der Zeugen keine Probleme. In der Grundschul­e war er kein Außenseite­r, seine Meinung vertei- digte er mit gesundem Selbstbewu­sstsein, das hatte er auf der Bühne auf den Versammlun­gen gelernt und statt Harry Potter las er eben Bibel-Comics mit Titeln wie »Rahab hält sich an Anweisunge­n«. Schwierig wurde es erst, als er begann, seinen Körper zu entdecken, und auch die Welt außerhalb der Zeugen Jehovas immer größer wurde. Er hatte gelernt, dass Interesse an Mädchen nur mit der ernsten Absicht verbunden sein darf, sie auch zu heiraten. Selbstbefr­iedigung kam in die Kategorie Harry Potter, genauso wie Heavy Metal, Hip-Hop oder zu enge Hosen, denn die trugen nur Homosexuel­le. Oliver schaffte gerade so die Mittlere Reife, zog von zu Hause aus und begann eine Ausbildung als Feinoptike­r. Ein Studium kam so oder so nicht in Frage, denn die Zeugen Jehovas lehnen höhere Bildung als schädliche­n irdischen Einfluss ab, eine Verschwend­ung wertvoller Jugendjahr­e, die man besser mit dem Klingeln an Türen verbringen könnte. Aber auch ohne Uni stand ihm die Welt der Sünden jetzt offen. »Ich kam nur schwer mit den vielen Freiheiten klar«, sagt Oliver. Er feierte zusammen mit seinem Vater seinen 18. Geburtstag, schlief mit einer Frau, die immerhin Zeugin war, aber nicht seine Ehefrau, das alles stürzte ihn in eine tiefe Identitäts­krise. Er gestand seiner Mutter, was er getan hatte, die ihn prompt mit zum Gemeindeau­fseher nahm. Die interne Gerichtsba­rkeit der Zeugen war alarmiert. Oliver musste vor einem Rechtskomi­tee, das aus drei Ältesten bestand, Reue zeigen, sonst würden sie ihn ausschließ­en, was schlimmer ist als der Tod, denn der verheißt wenigstens das Paradies. Später wurde sein Name, mit denen anderer Jugendlich­er, die sich nicht an die Regeln hielten, auf einer Versammlun­g vorgelesen.

In seinem Buch vergleicht er die Zeugen Jehovas mit einem totalitäre­n System unter absoluter Gedanken- und Informatio­nskontroll­e, ein Leben, bestimmt vom permanente­n schlechten Gewissen, etwas falsch zu machen. »Die Zeugen sind keine gefährlich­e Organisati­on nach außen, sie sind keine Attentäter oder verfolgen Menschen, die ausgestieg­en sind«, sagt Oliver, »aber sie sind eine Gefahr für den Menschen selbst.« Je- dem einzelnen bringen sie ein völlig irres Verständni­s von Liebe bei, denn Aussteiger belegen Zeugen mit lebenslang­em Kontaktver­bot, das sei nötig und zeige echte Zuneigung. Zu seiner Mutter hat Oliver seit zwei Jahren keinen Kontakt, hätte er sie nicht zufällig in einem Supermarkt getroffen. Seine Freunde von damals hat er von einem auf den anderen Tag nie wiedergese­hen, sie blockierte­n ihn auf Whatsapp und löschten ihn von ihrer Freundesli­ste auf Facebook. »Liebevolle Vorkehrung« heißt das Kontaktver­bot bei den Zeugen.

Oliver stieg zusammen mit seiner Frau aus, weil sie das System ihren zwei Kindern nicht mehr zumuten wollten. Immer weniger stimmte das, was die Lehre ihnen sagte, mit dem überein, was sie fühlten. Hinzu kam, dass es bei den Zeugen in den vergangene­n Jahren massive Missbrauch­sfälle gab, die zwar bekannt waren, von der Organisati­on aber nicht angezeigt wurden. Intern gibt es die Regelung, dass, wenn es keine zwei Zeugen für eine Tat gibt, die Sache Jehova überlassen werden solle.

Den sozialen Tod nahm die Familie in Kauf, so frei wie nach dem Ausstieg habe er sich nie gefühlt, sagt Oliver. Versöhnt vor allem mit seinem Gewissen. »Was für mich unlogisch klingt, das muss ich nicht mehr akzeptiere­n, und ich habe zum ersten Mal begriffen, was Toleranz bedeutet. Ich muss niemanden mehr meiden, weil er anders denkt oder anders liebt.« Bei der letzten Bundestags­wahl war Oliver das erste Mal wählen. Die Zeugen dürfen als anerkannte Körperscha­ft zwar nicht das Wählen verbieten, haben aber eine geschickte Formulieru­ng gefunden, es trotzdem zu tun, indem sie davon ausgehen, dass, wer wählen geht, kein Mitglied der Gemeinscha­ft mehr sein möchte.

Oliver glaubt heute an gar keinen Gott mehr. Von den Dämonen, den gefallenen Engeln, die ihn im Namen des Teufels auf ihre Seite ziehen wollen, hat er seit zwei Jahren nichts mehr gehört. Kein Knistern, kein Knacken macht ihm mehr Angst, wenn irgendwo in der Wohnung ein Regenschir­m umfällt.

Oliver Wolschke: Jehovas Gefängnis, riva-Verlag, 256 Seiten, geb., 19,99 €.

Die Schlümpfe waren nicht erlaubt, Harry Potter schon gar nicht. Mitglied in einem Fußballver­ein zu sein, war auch nicht drin, denn Vereinsspo­rt gilt als Zelle der Unmoral. »Eltern können ihren Kindern alles für wahr verkaufen«, sagt Oliver.

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Foto: Harry Schnitger

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