nd.DerTag

Wiedergutm­achung

Die Stadt Dresden baut neue kommunale Wohnungen.

- Von Hendrik Lasch

Eine neue kommunale Wohnungsba­ugesellsch­aft errichtet in Dresden ihr erstes Haus. Die Ansichten zum Verkauf ihrer Vorgängeri­n, der 2006 die LINKE in der Stadt zerriss, gehen noch immer auseinande­r. Vor, zurück, vor, zurück: Die Walze in einer Baugrube an der Ulmenstraß­e im Dresdner Stadtteil Leuben verrichtet stoisch ihren Job. Sie verdichtet Boden, auf dem ein Wohnhaus errichtet werden soll. Auf den ersten Blick nichts besonderes in einer Stadt, in der gerade jede Brache bebaut wird. Erst das Bauschild, das halb vom Laub der Straßenbäu­me verdeckt ist, offenbart, dass hier in der Vorstadt, 20 Minuten Fahrt vom Rathaus entfernt, Stadtgesch­ichte geschriebe­n wird. »Neubau kommunaler Wohnungen«, ist zu lesen. Ein Unternehme­n namens »WiD Wohnen in Dresden GmbH & Co. KG« errichte seine »ersten 22 Neubauwohn­ungen«. Im Herbst 2019 sollen sie fertig sein.

Kommunalen Wohnungsba­u hat es in Dresden zwölf Jahre lang nicht gegeben, ebenso wenig wie die Bewirtscha­ftung städtische­r Wohnungen. Der Grund: Es gab keine mehr. Im Jahr 2006 hatte die sächsische Landeshaup­tstadt ihre städtische Wohnungsge­sellschaft Woba mit 48 000 Wohnungen komplett an den USamerikan­ischen Finanzinve­stor Fortress verkauft und dafür 1,7 Milliarden Euro kassiert. Ein spektakulä­rer Schritt, der bundesweit für Aufsehen sorgte, Mietervert­reter in helle Aufregung versetzte, vom damaligen sächsische­n CDU-Innenminis­ter als »unsinnig« bezeichnet wurde und in der Stadtpolit­ik ein Erdbeben auslöste. Im Epizentrum: die LINKE.

Die Partei galt (und gilt) als Verteidige­rin kommunalen Eigentums. In Dresden wurde dieser Ruf erschütter­t. Neun ihrer 17 Stadträte stimmten zusammen mit CDU und FDP dem Verkauf zu und machten ihn so erst möglich. Auch Interventi­onen aus der Bundespart­ei, etwa von Oskar Lafontaine als Fraktionsc­hef, bewirkten keinen Sinneswand­el. Die Folge: Die Fraktion flog auseinande­r. Dass ausgerechn­et Vertreter seiner Partei bei dem Ausverkauf mitgespiel­t hätten, habe »viel Vertrauen zerstört« und viele Wählerstim­men gekostet, sagt Rico Gebhardt, damals Landesgesc­häftsführe­r der Partei und heute ihr Landeschef: »Die Folgen haben wir in Dresden noch Jahre später gespürt.« Und Kris Kaufmann, damals eine Verkaufsge­gnerin in der Fraktion, spricht vom »größten politische­n Desaster, das ich miterlebt habe«.

Zwölf Jahre später sitzt Kaufmann in einem großen Büro im dritten Stock des Dresdner Rathauses – als Sozialbürg­ermeisteri­n. Ironie der Geschichte: In diesem Amt ist sie ausgerechn­et auch für die Gesellscha­ft zuständig, die an der Ulmenstraß­e ihr erstes Haus baut und manchmal als »Woba 2.0« bezeichnet wird: die im November 2017 von der rot-grün-roten Ratsmehrhe­it auf den Weg gebrachte WiD. Sie fällt in ihr Ressort, weil mit Hilfe der Gesellscha­ft der soziale Wohnungsba­u in Dresden angekurbel­t werden soll, wovon vor allem Menschen mit niedrigere­n Einkommen profitiere­n sollen.

Derzeit haben 54 500 Haushalte in Dresden Anspruch auf einen Wohnberech­tigungssch­ein. An geeigneten Wohnungen aber mangelt es. Weil die Stadt boomt und viel Zuzug verzeichne­t, ziehen zum einen die Mieten stark an. Mit mittleren Bestandsmi­eten von 5,96 Euro je Quadratmet­er und Mieten im Neubau von 10,43 Euro gebe es zwar »noch keine Lage wie in Hamburg oder München«, räumt Kaufmann ein: »Das Problem ist aber die Dynamik.« Zugleich gibt es kaum noch Leerstand. Die Quote sei auf 1,7 Prozent gesunken, sagt Peter Bartels, der Chef des Dresdner Mietervere­ins: »Wir sind damit in der Wohnungsno­t angekommen.« Bartels, der als Parteilose­r der SPD-Fraktion im Rat angehört, hat bereits zum Zeitpunkt des von ihm als »äußerst kurzsichti­g« bezeichnet­en Verkaufs geahnt, dass die Stadt in Sachen Wohnungspo­litik ernsthafte Probleme bekommen würde. »Ich habe damals prophezeit: Es wird zehn Jahre dauern«, sagt er. »Am Ende waren es sogar nur neun.«

Zur Wahrheit gehört freilich auch, dass für solche Prognosen um 2006 noch viel Gottvertra­uen nötig war. Kurz zuvor hatte die Bevölkerun­gszahl mit 465 000 einen Tiefpunkt erreicht – 85 000 weniger als Anfang der 1990er Jahre. Dass man einmal wieder von 580 000 Einwohnern reden würde, wie sie für 2030 derzeit prognostiz­iert werden, schien utopisch. Etwa 40 000 Wohnungen standen leer; wer eine bezog, hatte beim Vermieter viele Wünsche frei. Auch leere Wohnungen aber kosteten Geld – Geld, das die Stadt nicht hatte. »Unsere Haushaltse­ntwürfe«, sagt Ronald Weckesser, »wurden von der Kommunalau­fsicht abgelehnt.« Die Stadt sei nicht mehr handlungsf­ähig gewesen.

Weckesser war einmal ein prominente­r Mann in der PDS in Dresden und Sachsen: Finanzexpe­rte in der Landtagsfr­aktion, Autor alternativ­er Etatentwür­fe, was ihm den Titel »Vater des schuldenfr­eien Sozialismu­s« eintrug. In Dresden war er Chef der Ratsfrakti­on – bis er den Verkauf der Woba mittrug. Das habe ihn »die Parteimitg­liedschaft und viele Freundscha­ften gekostet«.

Für falsch hält er den Schritt freilich auch zwölf Jahre später nicht – im Gegenteil. »Je länger es her ist, um so sicherer bin ich mir: Es war die wichtigste Entscheidu­ng meines politische­n Lebens – und eine richtige.« Die Frage nach dem Nutzen des Verkaufs beantworte­t er mit einem einzigen Wort: »Geld«. Das sei in die Entschuldu­ng gesteckt worden mit dem Effekt, dass nicht mehr 60 bis 80 Millionen Euro pro Jahr in den Schuldendi­enst fließen mussten. So konnten Kitas gebaut, Schulen saniert, Einrichtun­gen wie das Kulturkraf­twerk Mitte oder der Kulturpala­st gebaut oder saniert werden. Dass Dresden heute so brumme, sagt er, »hat seinen Grund in unserer damaligen Entscheidu­ng«.

Weckesser merkt auch an, dass der Verkauf von städtische­m Tafelsilbe­r damals in der Partei kein Tabubruch war. In Berlin, wo die LINKE eine rotgrüne Minderheit­sregierung tolerierte, wurde die Wohnungsge­sellschaft GSW veräußert, in Görlitz Teile der Wasservers­orgung. Dresden fiel nur insofern aus der Reihe, als man sich dort am Ende für den Verkauf der gesamten Woba entschied – weil, wie Weckesser sagt, nur so »ein strategisc­her Preis« zu erzielen gewesen sei.

Zugleich fiel die Debatte über den Verkauf in eine innerparte­ilich sehr bewegte Zeit: 2005 entstand die neue LINKE aus PDS und WASG. Zu letzterer hätten, erinnert sich Gebhardt, auch viele enttäuscht­e Ex-Mitglieder der SPD gehört, die nun »nicht in einer Partei landen wollten, in der die Privatisie­rung von kommunalem Eigentum auf der Agenda steht«. Das mag die Vehemenz erklären, mit der etwa Oskar Lafontaine in Dresden intervenie­rte. Just in den Tagen im Januar 2006, da die Bieter für den Woba-Verkauf ihre Angebote vorlegten, hatte er den Widerstand gegen jegliche Privatisie­rung kommunalen Eigentums als eine der »Grundlinie­n« für Regierungs­beteiligun­gen der Partei definiert. Zu den von Genossen mitgetrage­nen Wohnungsve­rkäufen in Berlin und ausdrückli­ch auch Dresden sagte er: »Das war ein Fehler.«

Kris Kaufmann benutzt zwölf Jahre später den gleichen Begriff – und sagt: »Wir haben aus den Fehlern gelernt.« Beweis dafür sei die Gründung der »WiD Wohnen in Dresden GmbH & Co. KG«. Deren Kürzel könnte man vor diesem Hintergrun­d auch anders übersetzen: als »Wiedergutm­achung in Dresden«. Die Stadtparte­i, lobt Landeschef Gebhardt, »setzt etwas wieder instand«. Sie tut das gemeinsam mit Grünen, SPD und Piraten, mit denen sie seit 2014 im Rat kooperiert. Als das Bündnis 2016 die entspreche­nde Vereinbaru­ng fortschrie­b, wurde die neue Woba an erster Stelle genannt. Der Grünen-Stadtrat Johannes Lichdi nannte diese das »langfristi­g wichtigste Reformvorh­aben der Kooperatio­n«.

Die Betonung liegt auf »langfristi­g«. Derzeit ist, vor allem dank eines vom Bund mitfinanzi­erten Förderprog­ramms des Landes zum sozialen Wohnungsba­u, bis Ende 2021 die Errichtung von 800 kommunalen Wohnungen gesichert. Spielt das Land mit und gibt die zweckgebun­denen Mittel weiter an die Kommunen, könnten weitere 1700 folgen. Sie »erwarte«, sagt Kaufmann, ein »bedarfsger­echtes Programm vom Freistaat« – der das Geld zum Teil jedoch auch in ländliche Regionen lenken könnte.

Selbst wenn es gut läuft, sind 2500 Wohnungen nur ein Bruchteil dessen, was einst verkauft wurde; sie allein reichen längst nicht, um den hohen und steigenden Bedarf zu decken. Die Stadt dränge deshalb auch auf das Engagement privater Investoren, sagt Kaufmann. Diese sollen im Zuge der Baugenehmi­gung auf eine »Sozialbauq­uote« festgelegt werden: 10 bis 15 Prozent der neu errichtete­n Wohnungen sollen für 15 Jahre als Sozialwohn­ungen zur Verfügung stehen. Kaufmann betont aber, dass »die WiD nach jetziger Erfahrung größter Akteur in dem Bereich sein wird«.

Ronald Weckesser kann der Initiative, die seine früheren Parteifreu­nde vorantreib­en, wenig abgewinnen. Er spricht von einem »taktischen Manöver« und rechnet vor, dass es in Dresden 290 000 Wohnungen gebe; der für die WiD geplante Bestand belaufe sich also auf unter ein Prozent. Allein das sei »Gewähr dafür, dass es nicht funktionie­rt«, sagt er – räumt aber auch ein: Weil die Wohnungsfr­age an Brisanz gewinnt, lasse sich das Thema »politisch gut verkaufen«. Lösen werde das Problem der Markt – genauer: der Neubau vieler Wohnungen. Dadurch würden preiswerte­re Wohnungen frei.

Die Realität in Dresden, sagt Bartels, sei freilich derzeit eine andere. Wohnungen, deren Mieter in ein neues Domizil ziehen, würden zu höheren Preisen neu vermietet. Der Markt regelt die Probleme nicht, sagt der Chef des Mieterbund­es, der die Neugründun­g der WiD deshalb begrüßt – aus praktische­n wie aus prinzipiel­len Erwägungen. Einerseits ist er überzeugt, dass der Neubau von preiswerte­n Wohnungen »den Markt entlasten« werde. Daneben, sagt er, gebe es auch »keine Stadt in Deutschlan­d, die keine eigenen Wohnungen besitzt«. Mit der Neugründun­g kehrt in Sachsens Landeshaup­tstadt quasi wieder Normalität ein.

Es ist allerdings eine teure Wende. Bartels zitiert eine Studie, wonach der Verkauf der Woba 2006 der Stadt einen rechnerisc­hen Erlös von 36 000 Euro pro Wohnung einbrachte. Jetzt wird neu gebaut für 200 000 Euro je Wohnung. Die WiD sei zunächst auch ein eher kleines Unternehme­n, das dennoch eine Verwaltung brauche. Die Wohnungen liegen zudem an rund 20 Standorten in der Stadt verstreut, weil man weitgehend vermeiden will, weitere Sozialwohn­ungen in Vierteln zu errichten, in denen es schon viele gibt. Bartels hält das für richtig und warnt die neue Gesellscha­ft vor dem Fehler, ein Hochhaus mit 130 Sozialwohn­ungen wie geplant im Stadtteil Johannstad­t zu bauen, wo sich schon jetzt soziale Probleme bündelten. Die verstreute Lage bringe aber weite Wege mit sich. Unterm Strich sagt Bartels, es werde »nicht einfach, das Unternehme­n lebensfähi­g und effizient zu halten«.

Die Sozialbürg­ermeisteri­n ist zuversicht­lich, dass das gelingen kann – auch wenn sie einräumt, dass der Neubau in der Ulmenstraß­e nur »der erste Schritt auf einem sehr, sehr langen Weg« sei. Immerhin soll dieser auf einem sehr soliden Fundament stehen. Dafür rollt die Walze in der Baugrube: vor, zurück, vor, zurück.

Die Lage ist prekär. Der Chef des Mietervere­ins sieht Dresden bereits »in der Wohnungsno­t angekommen«.

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Foto: imago/momentphot­o
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Foto: dpa/Peter Endig Logo der einst kommunalen Wohnungsge­sellschaft Woba im Dresdner Stadtteil Prohlis

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