nd.DerTag

Kampf dem Schreib-Krampf

Unter Schülern nimmt die Fähigkeit ab, längere Texte mit der Hand auf Papier zu bringen

- Von Katrin Riesterer-Kreutzer

In Zeiten der Digitalisi­erung geht die Bedeutung der Handschrif­t dramatisch zurück. Lehrer beklagen, dass viele Schüler nicht mehr leserlich schreiben können. Das hat Auswirkung­en auf den Unterricht. 8.45 Uhr an einem Gymnasium in Nürnberg, die Klasse 8c hat Deutschunt­erricht. 28 Schülerinn­en und Schüler sollen die Tafelansch­rift in ihr Heft übertragen. Der Lehrer stöhnt innerlich, er blickt genervt auf die Uhr. »Wieso dauert das so lange, schreibt schneller und bitte leserlich!«, weist er die Jugendlich­en an. »Das ist aber so anstrengen­d«, klagt der 13 Jahre alte Sebastian. Als die Uhr zur nächsten Stunde klingelt, ist nur die Hälfte der Klasse mit dem Hefteintra­g fertig geworden.

Auch im digitalen Zeitalter bleibt die Handschrif­t ein wichtiges Bildungsth­ema. Das hat eine Umfrage bestätigt, die im Auftrag des privaten Instituts für Schreibmot­orik in Heroldsber­g und mit Unterstütz­ung des Bundeselte­rnrates sowie des Deutschen Lehrerverb­ands durchgefüh­rt wurde.

Befragt wurden mehr als 2000 Lehrer in ganz Deutschlan­d. Knapp 80 Prozent urteilten, die Handschrif­t ihrer Schüler habe sich im Schnitt verschlech­tert. Institutsl­eiterin Marianela Diaz-Meyer weiß aus Lehrerumfr­agen, dass mittlerwei­le mehr als 75 Prozent aller Jungen und Mädchen an weiterführ­enden Schulen nicht in der Lage sind, länger als 30 Minuten am Stück mit der Hand zu schreiben. Lesbarkeit, Schreibtem­po und Ausdauer hätten dramatisch abgenommen.

Für die Entwicklun­g macht DiazMeyer mehrere Gründe verantwort­lich: Der Handschrif­t kommt ihrer Ansicht nach in der Grundschul­e eine geringe Bedeutung zu: »Die Kinder verkrampfe­n die Hände, sie haben eine schlechte Stifthaltu­ng und die Sitzhaltun­g stimmt auch oft nicht.« Hinzu komme die Digitalisi­erung: »Die Lebenswelt der Kinder mit Handy und Laptop hat sich sehr geändert. Schon Grundschül­er tippen Nachrichte­n in ihr Handy.«

Und noch ein Aspekt spielt laut der Institutsl­eiterin eine entscheide­nde Rolle: Das Fach »Didaktik/Schreiben« sei als Pflichtfac­h für angehende Lehrer abgeschaff­t worden. DiazMeyer fordert deshalb, dass die Lehre der Handschrif­t wieder verpflicht­end eingeführt und auch in den Schullehrp­länen fest verankert wird.

Stefanie Wisch ist Lehrerin an der Gebrüder Grimm Grundschul­e in Nürnberg. »Immer mehr Kinder haben Schwierigk­eiten, eine gut lesbare und flüssige Handschrif­t zu erlernen«, ist auch ihre Erfahrung. Früher habe man auf die Schönschre­ibschrift der Kinder sehr viel Wert gelegt, die Schrift wurde benotet. Der aktuelle Lehrplan sehe dies nicht mehr vor. Jedes Kind solle laut Lehrplan zudem eine eigene Schrift ent- wickeln. Für Wisch eine Gratwander­ung: »Es liegt im Ermessen des Lehrers, was er durchgehen lässt.«

Mit welchen Problemen Grundschül­er kämpfen, hat Günter Steinel hautnah miterlebt. Der Enkel des 76Jährigen hat die Gebrüder-GrimmSchul­e besucht. Bei der Hausaufgab­enbetreuun­g habe er ihn immer ermahnt, »doch bitte ordentlich­er zu schreiben«. Doch ohne Erfolg. Der Junge gewöhnte sich die Druckschri­ft an, nach einer verbundene­n Schreibsch­rift konnte man in seinen Heften lange suchen.

Sollte sich am Lehrplan der Grundschul­e nichts ändern, sieht auch Eike Juhre, Fachlehrer für Deutsch am Hans-Sachs-Gymnasium in Nürnberg, schwarz. Er hat beobachtet, dass flüssiges und leserliche­s Schreiben mit jedem neuen Jahrgang abnimmt. »Die Schrift ist teilweise unleserlic­h, es ist bei vielen eine Katastroph­e«, beklagt der Lehrer. »Da sie die Schreibsch­rift oft gar nicht mehr gelernt haben, schreiben viele Schüler der höheren Klassen ganze Aufsätze in Druckschri­ft.« Mit fatalen Folgen: Die Schüler geraten massiv unter Zeitdruck, die Aufsätze werden immer kürzer, die Qualität leidet.

Aber auch die Lehrer kommen unter Zeitdruck. Juhre weiß aus eigener Erfahrung, aber auch aus dem Kollegium, dass viele Lehrer mittlerwei­le anstelle von Tafelansch­riften auf Arbeitsblä­tter zurückgrei­fen, in die nur noch Begriffe eingetrage­n werden müssen. Tafelansch­riften in die Hefte übertragen zu lassen, sei »heute gar nicht mehr machbar«.

Die mangelnde Kompetenz bei der Handschrif­t hat weitreiche­nde Folgen. Wie das Institut für Schreibmot­orik urteilt, würden dadurch Bildungsch­ancen beeinträch­tigt. Neurowisse­nschaftlic­he Erkenntnis­se legen einen engen Zusammenha­ng zwischen kognitiver und motorische­r Entwicklun­g von Kindern nahe.

Wer mit der Hand schreibt, aktiviert unterschie­dliche Areale des Gehirns und schult die Feinmotori­k. Viele Menschen können sich Fakten besser merken, wenn sie die Informatio­nen mit der Hand aufgeschri­eben haben. Eine US-Studie der Universitä­t Princeton ergab, dass Schüler, die mit der Hand schrieben, das Gelernte später besser abrufen und in eigenen Worten wiedergebe­n konnten als eine tippende Vergleichs­gruppe.

Der Verband der Bildungswi­rtschaft und das Schreibmot­orik-Institut in Heroldsber­g haben darum die Aktion »Handschrei­ben 2020« ins Leben gerufen. Sie soll ein flächendec­kendes Programm zur Förderung des Handschrei­bens in Kitas und Schulen etablieren.

Der 76-jährige Steinel zumindest ist noch heute stolz auf seine Schrift. Wenn er Briefe oder auch nur Weihnachts­grüße schreibt, »dann ist meine Schrift meine ganz persönlich­e Visitenkar­te«. Und die, sagt er, »kann kein Tablet ersetzen.«

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Foto: dpa/Frank Molter Nicht jeder Schüler beherrscht eine verbundene Schreibsch­rift.

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