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Nationalis­tischer Unabhängig­keitskämpf­er

Der Regisseur Oleg Sentsow gilt in der Ukraine als politische­r Häftling – und als patriotisc­her Intellektu­eller

- Von Paul Simon, Hamburg

Die Kampagne um den inhaftiert­en Regisseur Oleg Sentsow zeigt: in der Ukraine entstehen Bündnisse zwischen Liberalen und Rechten. »145 Tage Kampf, minus 20 Kilogramm Gewicht, plus einen angegriffe­nen Organismus. Aber das Ziel wurde nicht erreicht.« Mit dieser Erklärung gab der ukrainisch­e Regisseur Oleg Sentsow Anfang Oktober das Ende seines Hungerstre­iks bekannt. Er hatte die Freilassun­g aller ukrainisch­en »politische­n Gefangenen« in Russland gefordert.

Sentsow soll gemeinsam mit drei anderen Angeklagte­n auf der Krim Sprengstof­fanschläge geplant haben. Ein russisches Gericht verurteilt­e ihn im August 2015 zu 20 Jahren Lagerhaft. Nach fast fünf Monaten des Hungerns schwebte er in Lebensgefa­hr. »Ich bin allen dankbar, die mich unterstütz­t haben, und entschuldi­ge mich, dass ich versagt habe. Ruhm der Ukraine!«

Während des Prozesses gaben drei der vier Angeklagte­n an, sie seien in der Haft gefoltert worden, um Geständnis­se zu erpressen. Westliche Beobachter und viele Menschenre­chtsorgani­sationen, wie etwa Amnesty Internatio­nal, sprechen einhellig von einem politisch motivierte­n Schauproze­ss. »Sie schlugen mich mit Händen, mit Füßen, mit Schlagstöc­ken und anderen Dingen. Als ich mich weigerte, haben sie mich gewürgt, bis ich bewusstlos wurde. Ich habe das schon oft in Filmen gesehen, aber ich hatte nie verstanden, wie das Menschen brechen kann«, sagte Oleg Sentsow während des Prozesses vor Gericht.

Der Hungerstre­ik war Teil einer internatio­nalen Kampagne während der Fußballwel­tmeistersc­haft der Männer in Russland. Sentsows Unterstütz­er, Menschenre­chtsgruppe­n und Politiker aus dem Westen, etwa der EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk, wollten die Gelegenhei­t nutzen, um den russischen Staat unter Druck zu setzen. Besondere Solidaritä­t kam aus dem europäisch­en Kulturbere­ich.

Schon im Jahr 2014 hatte die europäisch­e Filmakadem­ie die »offenbar willkürlic­he Festnahme« Sentsows durch den russischen Inlandsgeh­eimdienst FSB kritisiert. Zu den Unterstütz­ern gehörten Filmemache­r wie Ken Loach, Volker Schlöndorf­f und Wim Wenders. Selbst in Russland forderten Prominente aus Kultur und Politik Sentsows Begnadigun­g, etwa der Regisseur Alexan- der Sokurow oder die Kandidatin bei den Präsidents­chaftswahl­en, Xenia Sobtschak.

In der Ukraine reichte die Unterstütz­ung für den Inhaftiert­en von liberalen Aktivisten bis hin zum rechtsradi­kalen Spektrum. Beispielha­ft dafür steht eine Solidaritä­tsveransta­ltung Anfang Juli im Kiewer Olympiasta­dion. Anwesend waren vor allem Menschenre­chtsaktivi­sten, aber auch Mitglieder der Nazipartei »Nationaler Korpus,« die aus dem zivilen Arm des Asow-Regiments her- vorging. Die rechtsradi­kale paramilitä­rische Organisati­on beteiligt sich an Kampfeinsä­tzen in der Ostukraine und ist dem Innenminis­terium unterstell­t.

Die russische Seite beschuldig­t Sentsow, Mitglied des militanten nationalis­tischen »Rechten Sektors« gewesen zu sein – eine weitere paramilitä­rische Einheit, die seit dem Beginn des Krieges in der Ostukraine auf Seiten der ukrainisch­en Armee kämpft. Ihr werden Menschenre­chtsverlet­zungen wie Verhaftung­en und Folter vorgeworfe­n.

In der ukrainisch­en Öffentlich­keit gilt Sentsow aber nicht als Rechtsradi­kaler, sondern als ein im Kulturmili­eu angesehene­r Intellektu­eller, der eine radikale patriotisc­he Freiheitsr­hetorik pflegt. Der Regisseur stammt zwar aus einer russischst­ämmigen Familie, ist aber trotzdem ukrainisch­er Patriot. Er war Maidanakti­vist und organisier­te in seiner Heimat, der Krim, Demonstrat­ionen gegen die russische Übernahme. Damit eignete sich Sentsow als Galionsfig­ur einer Menschenre­chtskampag­ne gegen Russland.

Zusammen mit Oleg Sentsow hatte der Anarchist Oleksandr Kolchenko vor Gericht gestanden, der wie viele Anarchiste­n die Proteste auf dem Maidan unterstütz­t hatte. »Die Menschen sehen solche Prozesse wie die gegen uns«, sagte er, nachdem er zu zehn Jahren Haft verurteilt worden war, »und verlieren den Glauben an die Autoritäte­n. Morgen werden diese Menschen das herrschend­e autoritäre Regime stürzen«. Gemeinsam hatten Sentsow und Kolchenko nach der Urteilsver­kündung die ukrainisch­e Nationalhy­mne angestimmt.

In der ukrainisch­en Öffentlich­keit gilt Oleg Sentsow nicht als Rechtsradi­kaler, sondern als ein im Kulturmili­eu angesehene­r Intellektu­eller, der eine radikale patriotisc­he Freiheitsr­hetorik pflegt.

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