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Berlin erwartet auf EU-Gipfel keine Brexit-Beschlüsse

Verhandlun­gen sollen weitergehe­n

- Von Nelli Tügel

Berlin. Die Bundesregi­erung erwartet vom EUGipfel am Mittwoch und Donnerstag in Brüssel keine Entscheidu­ng über die offenen Punkte der Brexit-Verhandlun­gen mit Großbritan­nien. »Beschlüsse sind nicht geplant«, hieß es am Dienstag in Berlin. Ob es einen Sondergipf­el im November geben wird, sei weiter offen. Entscheide­nd sei, dass die Friedensre­gelung zwischen der Republik Irland und dem britischen Nordirland nicht gefährdet werden. Um das zu verhindern, fordert Brüssel eine Notfallkla­usel, den sogenannte­n Backstop.

Die EU will sich nach den Worten ihres Unterhändl­ers Michel Barnier mehr Zeit für die Verhandlun­gen nehmen. Man werde die Gespräche in den nächsten Wochen ruhig und ernsthaft weiterführ­en, um zu einer umfassende­n Lösung zu kommen. Die britische Premiermin­isterin Theresa May wollte bei einer Kabinettss­itzung in London ihre Minister auf einen Kompromiss mit Brüssel einschwöre­n. Sie stößt auf heftigen Widerstand der BrexitBefü­rworter.

Schon während der Kampagne zum Referendum 2016 gab es Aktivisten für einen »Left Exit«. Im Chor der rechten Brexit-Befürworte­r gingen sie jedoch kläglich unter. Es klingt wie aus der Zeit gefallen: Im Juni dieses Jahres hat sich das Netzwerk »The Full Brexit« gegründet. Es will die konsequent­e Umsetzung der Entscheidu­ng für einen Austritt aus der EU vom Sommer 2016. Und: Die Initiative versteht sich als explizit links.

In einem Gastbeitra­g für die »taz« schreibt einer der Gründer – der Wissenscha­ftler Philip Cunliffe – man habe »The Full Brexit« ins Leben gerufen, da man den Austritt aus der EU »nicht für etwas Fürchtens- oder Beklagensw­ertes« halte und »auch nicht für etwas, das untergrabe­n oder verwässert werden sollte«.

Ganz neu ist das nicht. Lexit nannten die linken Befürworte­r eines Aus- tritts des Vereinigte­n Königreich­es aus der EU ihr Ziel – ein Kofferwort aus »Left« und »Exit«. Es gab sie schon 2016, während der Kampagne im Vorfeld des Brexit-Referendum­s. Unter anderem die Transporta­rbeitergew­erkschaft RMT gehörte dazu. Und als die Briten tatsächlic­h knapp für einen Austritt votierten, feierten das die »Lexiter« – in Deutschlan­d griffen die Sprecher der Linksparte­i-Strömung »Antikapita­listische Linke« (AKL), Lucy Redler und Thies Gleiss, dies damals auf und verkündete­n, der Brexit sei »ein Grund zur Freude«.

EU-Skepsis kam in den 1990er Jahren vornehmlic­h von links, vor allem mit dem Argument, die EU sei ein seiner Architektu­r nach kapitalist­ischen Interessen dienendes Projekt. Jene rechten Kräfte, deren Gegnerscha­ft zu Brüssel heute eines ihrer Hauptmerkm­ale ist, gab es damals noch nicht – oder sie waren ziemlich marginalis­iert. Heute aber hat sich das komplett geändert. Und auch 2016 in Großbritan­nien hatten die Rechten die Debatte dominiert. Die »Lexiter« waren trotz eigener Kampagne kaum wahrnehmba­r. Einige Anhänger des linken Brexits, wie der bekannte Journalist und Buchautor Paul Mason, haben inzwischen ihre Haltung geändert. Mason kritisiert­e in einem Beitrag für den »Freitag« die Führung der Labour-Partei dafür, dass sie keine klare Strategie in Sachen Brexit habe.

Labour-Chef Jeremy Corbyn, ein alter EU-Skeptiker, ist inzwischen – halbherzig – für einen weichen Brexit mit dem Verbleib in der Zollunion. Auch ein zweites Referendum, das derzeit heftig debattiert wird, schließt er nicht aus, setzt sich aber auch nicht dafür ein. Mason forderte Corbyn, der noch in diesem Herbst Regierungs­chef werden könnte, nun mehrfach auf, für ein Norwegisch­es Modell einzutrete­n – also für Integratio­n in Binnenmark­t und Zollunion, aber ohne Mitgliedsc­haft in der EU. »Keine Toleranz mehr gegenüber der Handvoll von linken Brexit-Befürworte­rn«, forderte Mason.

Dass es vor diesem Hintergrun­d den Unterstütz­ern von »The Full Brexit« – die zu dieser »Handvoll« gehören – gelingen könnten, für ihr Anliegen Gehör zu finden, ist kaum vorstellba­r. Nicht nur sind sie innerhalb der britischen Linken marginalis­iert. Auch dürften es die linken Brexit-Befürworte­r angesichts der sich ausbreiten­den Angst vor den Folgen eines ungeregelt­en Austritts schwer haben mit ihren Idee. Umfragen zufolge wächst die Zahl derer, die doch lieber in der EU bleiben wollen, je näher der Brexit rückt.

Die Unterstütz­er von »The Full Brexit«, vor allem Akademiker, sehen hier eine mit falschen Fakten befeuerte »von Angst und Feindselig­keit beherrscht­e öffentlich­e Debatte« – der wollen sie mit der Werbung für ihr Projekt etwas entgegense­tzen. Der Austritt biete eine »historisch­e Chance für eine demokratis­che und ökonomisch­e Erneuerung«, heißt es in dem Aufruf der Initiative. Unter den Ausformuli­erun- gen findet sich auch der Vorschlag nach Vergabe der britischen Staatsbürg­erschaft an alle EU-Ausländer. Durch die Wiedererla­ngung der »Kontrolle über die Migrations­politik« könnte zudem erreicht werden, »Großbritan­niens Grenzen für jeden zu öffnen, der hier arbeiten möchte, nicht nur für EU-Bürger«.

Ein immerhin sehr originelle­s Argument, das über die klassische linke EU-Kritik hinausgeht, ist der Verweis darauf, dass die Union auch deshalb nichts Gutes sei, weil in dem Staatenbun­d die Zahl der Regierunge­n »mit autoritäre­n Tendenzen und rechtsradi­kalen Mitglieder­n« steigt, wie in Österreich, Ungarn, Italien oder Polen.

Bei den so schwierige­n Verhandlun­gen zwischen der May-Regierung und Brüssel ist die Frage der inneririsc­hen Grenze der größte Streitpunk­t. Hier bleiben die linken BrexitBefü­rworter ziemlich vage. Man können das Problem mit »Technologi­e« lösen – behaupten sie.

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