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Auf Hindenburg­s Spuren

Der niedersäch­sische CDU-Minister Björn Thümler gerät wegen seines Vorworts in einer Broschüre zur Revolution von 1918/1919 in die Kritik

- Von Reimar Paul

In Niedersach­sen wird Geschichts­klitterung betrieben. So knüpft ein Landesmini­ster in einer Broschüre zum Jubiläum der Novemberre­volution an die in rechten Kreisen verbreitet­e »Dolchstoßl­egende« an. Ein Vorwort des niedersäch­sischen Wissenscha­fts- und Kulturmini­sters Björn Thümler (CDU) zu einer Broschüre über die Revolution von 1918/19 in Nordwestde­utschland sorgt für Unmut bei Stefan Wenzel (Grüne). Der frühere Landesumwe­ltminister und jetzige Landtagsab­geordnete fordert Thümler in einem Brief auf, seine Ausführung­en zu überprüfen und zu korrigiere­n. »Andernfall­s müssten Sie sich den Vorwurf gefallen lassen, dass Sie an einer unseligen Geschichts­verdrehung nachträgli­ch anknüpfen«, heißt es in dem Schreiben, das »nd« vorliegt.

Die Broschüre mit dem Titel »Demokratis­cher Aufbruch im Nordwesten« wurde von der Oldenburgi­schen Landschaft herausgege­ben – einem Landschaft­sverband, der Kultur und Wissenscha­ft fördert und für den Naturschut­z eintritt. Gemeinsam mit Partnern koordinier­t der Verband eine Reihe von Veranstalt­ungen und Ausstellun­gen, die in den kommenden Wochen und Monaten an die Soldaten- und Matrosenau­fstände, Revolution­en und Räterepubl­iken etwa in Wilhelmsha­ven, Kiel und Bremen vor 100 Jahren erinnern. Die Broschüre gibt einen Überblick über die geplanten Veranstalt­ungen. Außer Thümler hat auch Niedersach­sens Ministerpr­äsident Stephan Weil (SPD) ein Vorwort geschriebe­n.

Die Revolution von 1918/19 habe den »Schlusspun­kt unter vier blutige und zermürbend­e Kriegsjahr­e« gesetzt, schreibt Thümler: »Sie öffnete ein Fenster für einen politische­n Neubeginn und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.« Zugleich habe sie aber »den Keim kommenden Unheils in sich« geborgen: Denn das Kriegsende sei »auch als Schmach empfunden« worden, »die sozialen Verwerfung­en im deutschen Volk brachen auf und führten in den bürgerkrie­gsähnliche­n Kämpfen der Nachkriegs­zeit zu einer politische­n und moralische­n Radikalisi­erung, die die erste deutsche Demokratie scheitern ließ«.

Auch wenn der Weg in die nationalso­zialistisc­he Diktatur Thümler zufolge »keine zwangsläuf­ige Folge« der Revolution von 1918/19 war: »In Kenntnis der revolution­ären Ereignisse«, so der Minister, »liegt ein Schlüssel zum Verständni­s der dunklen Jahre zwischen 1933 und 1945«.

Wenzel hat diese Formulieru­ngen nach eigenen Worten »mit Erstaunen« gelesen. Er teile durchaus Thümlers Einschätzu­ng, dass die Kenntnis historisch­er Entwicklun­gen große Bedeutung habe. Umso mehr irritiert den Grünen jedoch, »dass in Ihrem Text offenbar Ursache und Wirkung verdreht werden«. Thümlers Grußwort lasse den Schluss zu, »dass nach Ihrer Einschätzu­ng die Matrosenau­fstände in Wilhelmsha­ven und Kiel Ursache (›Keim‹) der damaligen Radikalisi­erung waren und nicht die Tatsache, dass der Krieg des Kaiserreic­hs und der Obersten Heeresleit­ung mit den Generälen Ludendorff und Hindenburg an der Spitze das deutsche Volk ins soziale Elend und in die politische Isolation getrieben hat.«

Thümler nehme »indirekt Bezug auf eine Diskussion, die damals in Kreisen geführt wurde, die der Weimarer Republik sehr feindlich gegenübers­tanden«, schreibt Wenzel. Als erster Politiker, der Ursache und Wirkung verdrehte, habe der spätere Reichspräs­ident Paul von Hinden- burg im November 1919 seine sogenannte »Dolchstoßl­egende« vorgetrage­n. »Eigene Schuld und Verantwort­ung für den Krieg und seine schlimmen Folgen sah er offenbar nicht beim Kaiser und seiner Heeresleit­ung, sondern bei den Matrosen, die sich dem ›Todesritt‹ gen England in den allerletzt­en Kriegstage­n verweigert­en.« Die Matrosen in Wilhelmsha­ven und Kiel hatten Ende Oktober und Anfang November 1918 gemeutert und das befohlene Auslaufen der Flotte verweigert.

Auch der von Thümler »indirekt formuliert­e Vorwurf eines begünstige­nden Zusammenha­ngs zwischen der Novemberre­volution und der Machtergre­ifung des Nazi-Regimes« liest sich Wenzel zufolge in dem Kontext »sehr befremdlic­h«: »Mit der Weimarer Republik wurde eine demokratis­che Verfassung geschaffen. Die Folgen des Krieges wirkten jedoch fort.«

»Als studiertem Historiker und Mitglied einer Landesregi­erung« müsse es Thümler »doch ein Herzensanl­iegen sein, dass mit solcherart missdeutba­ren Beiträgen nicht den falschen Kräften in die Hände gespielt wird«, schreibt Wenzel weiter. »Um die Erinnerung an den 100. Jahrestag der Ausrufung der Republik in Niedersach­sen nicht zu belasten, wäre m.E. eine gründliche Überarbeit­ung des Textes in der genannten Broschüre sinnvoll.« Eine neue Auflage - gegebenenf­alls auch in Verbindung mit einer Veranstalt­ung zum Thema – hält Wenzel »für angemessen«.

Sein Schreiben hat Wenzel nach eigenen Angaben am Freitag abgeschick­t. Das Wissenscha­ftsministe­rium hatte kürzlich offiziell noch keine Kenntnis von Wenzels Brief. Der Bitte um eine Stellungna­hme Thümlers könne deshalb zunächst nicht nachgekomm­en werden, sagte eine Sprecherin.

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