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Verbrechen an den Schwächste­n

Eine Nichtregie­rungsorgan­isation hat Kinder befragt, die aus EU-Staaten nach Afghanista­n »zurückgefü­hrt« wurden

- Von Jana Frielingha­us

Nach einem Bericht von »Save The Children« haben minderjähr­ige Heimkehrer meist kaum Perspektiv­en und sind von Gewalt bedroht. Europäisch­e Politiker beklagen oft und inbrünstig die desolate Menschenre­chtssituat­ion in Russland oder China. Dabei werden Grundrecht­e vieler Menschen auch in der EU mit Füßen getreten. Davon betroffen sind auch Minderjähr­ige, zu deren besonderem Schutz sich die meisten Mitgliedss­taaten, unter anderem durch Ratifizier­ung der UN-Kinderrech­tskonventi­on, verpflicht­et haben. Am Dienstag stellte die Organisati­on »Save The Children« in Berlin einen Report zur Lage von Kindern vor, die aus EU-Ländern nach Afghanista­n »zurückgefü­hrt« wurden.

Für den Bericht »Rückkehr ins Ungewisse« haben Mitarbeite­r der Nichtregie­rungsorgan­isation (NGO) mit Unterstütz­ung des Thinktanks »Samuel Hall« insgesamt 57 Kinder und Jugendlich­e in zwei afghanisch­en Provinzen befragt, wie Meike Riebau berichtete, Rechtsexpe­rtin bei Save The Children und Koordinato­rin der Untersuchu­ng. Weiter wurden Interviews mit Eltern und Vormündern der Kinder sowie Vertretern von offizielle­n Stellen und NGOs geführt, die mit ihren Fällen befasst waren. Die Untersuchu­ng wurde von Save The Children veranlasst, nachdem sich mehrere verzweifel­te Kinder bei einer Beratungsh­otline der Organisati­on in Schweden gemeldet hatten, deren Abschiebun­g unmittelba­r bevorstand.

Von den befragten Kindern kamen zwei Drittel über Rückkehrpr­ogramme mit ihren Eltern nach Afghanista­n, wurden aber selbst nicht nach ihren Wünschen gefragt. Die übrigen wurden abgeschobe­n. Die meisten sind von Gewalt und Zwangsrekr­utierung durch bewaffnete Gruppen bedroht. Mehrheitli­ch können sie keine Schule besuchen. Zudem hätten viele von ihnen vorher noch nie in Afghanista­n gelebt, sagte Riebau. Sie seien in Flüchtling­slagern in Iran oder in Pakistan oder in EU-Staaten geboren und aufgewachs­en. Als »Europäer« seien sie zudem Stigmatisi­erungen ausgesetzt. »Manche Leute sagen, dass die Kinder, die in Europa waren, zu Ungläubige­n geworden und keine echten Moslems mehr sind«, wird im Bericht ein 19-Jähriger zitiert, der mit 16 aus Österreich zurückgefü­hrt wurde. Drei Viertel der interviewt­en Kinder gaben an, sie wollten zurück nach Europa.

Save The Children fordert einen generellen Stopp von Abschiebun­gen nach Afghanista­n. Zudem müsse das Land von der Liste jener Staaten gestrichen werden, für die Programme zur freiwillig­en Rückkehr angeboten werden. Wenn Jugendlich­e dennoch in das Land reisen wollten, müsse gewährleis­tet sein, dass sie vor Ort Ansprechpa­rtner haben, die sich zum Beispiel um Unterkunft und Ausbildung kümmerten.

Dergleiche­n aber, betonte Onno van Manen, Länderdire­ktor von Save The Children in Afghanista­n, sei derzeit faktisch unmöglich. Minderjähr­ige, die an den Hindukusch zurückkehr­en, hätten keinerlei Möglichkei­t, »zum Aufbau eines besseren Afghanista­n beizutrage­n«. Die heutige sei »schlimmste Zeit«, die das Land je gesehen habe, sagte van Manen. Große Gebiete seien nicht unter der Kontrolle der Regierung in Kabul, sondern würden von Taliban, Warlords und zunehmend auch von Angehörige­n der Dschihadis­tenmiliz »Islamische­r Staat« beherrscht. Insbesonde­re Schulen und Krankensta­tionen seien Angriffen ausgesetzt.

Das bitterarme Land habe zudem bereits mit der Integratio­n Hunderttau­sender Binnenflüc­htlinge zu tun. Darüber hinaus leide es unter einer langanhalt­enden Dürre. Die wird nach Angaben der UN-Koordinier­ungsstelle für humanitäre Angelegenh­eiten, OCHA, noch jahrzehnte­lang Auswirkung­en haben.

Und nein, es gebe keine sicheren Orte in Afghanista­n, stellte van Manen auf die Frage eines Journalist­en klar, was von der entspreche­nden Lageeinsch­ätzung der Bundesregi­erung zu halten sei. Susanna Krüger, Ge- schäftsfüh­rerin von Save the Children Deutschlan­d, erinnerte daran, dass fast jede Woche Zivilisten bei Anschlägen sterben. Erst vor wenigen Tagen kamen durch eine Bombenexpl­osion während einer Wahlkampfv­eranstaltu­ng im Norden des Landes mindestens 22 Menschen ums Leben.

Zur Gesamtzahl der von Abschiebun­gen und Rückführun­gen nach Afghanista­n betroffene­n Kinder und Jugendlich­en seien keine Angaben möglich, sagte Meike Riebau auf Nachfrage von »nd«. Von den Regierunge­n seien dazu wenige bis gar keine Informatio­nen herausgege­ben worden. Riebau sieht die Staaten der EU hier in der Pflicht. Unter den in Afghanista­n Befragten seien neun aus Deutschlan­d gekommen. Drei von ihnen seien kurz nach ihrem 18. Geburtstag abgeschobe­n worden, drei als unbegleite­te Minderjähr­ige ausgereist und die übrigen zusammen mit ihren Familien.

Nach Auskunft von Riebau reisten 2017 insgesamt 1200 Personen über Programme zur sogenannte­n freiwillig­en Rückkehr aus der Bundesrepu­blik nach Afghanista­n aus, EU-weit waren es nach Angaben der Statistikb­ehörde Eurostat 4260. Wie viele Kinder unter ihnen waren, habe Save The Children nicht in Erfahrung bringen können. Riebau zufolge werden Menschen in der Bundesrepu­blik beispielsw­eise 1200 Euro pro Person angeboten, wenn sie sich schon während ihres Asylverfah­rens bereit erklären, wieder in ihr Herkunftsl­and zurückkehr­en. Tun sie das erst, nachdem ihr Antrag abgelehnt wurde, reduziert sich die Summe demnach auf 800 Euro.

Besonders erschütter­nd: Die Hälfte der interviewt­en Kinder hat bereits vor und während der Rückführun­g – also im Zuständigk­eitsbereic­h von Institutio­nen von EU-Mitgliedss­taaten – traumatisc­he »Gewalt- und Nötigungse­rfahrungen« gemacht. So seien auch kleinere Mädchen und Jungen in Handschell­en und von Polizisten eskortiert in ein Flugzeug gebracht und / oder von ihren Eltern getrennt worden, berichtete Riebau. Lediglich drei Kinder hätten überhaupt eine Art »Reintegrat­ionsplan« bekommen. Viele andere seien dagegen nach ihrer Ankunft am Airport von Kabul sich selbst überlassen worden. Viele Kinder berichtete­n von Anwerbungs­versuchen durch Milizen. Hier sei die Dunkelziff­er vermutlich sehr hoch, denn mit hoher Wahrschein­lichkeit hätten nur diejenigen mit den Interviewe­rn darüber gesprochen, die sich erfolgreic­h gewehrt hätten.

Durch Abschiebun­gen und Rückführun­gen nach Afghanista­n verletzten die EU-Staaten die Grundrecht­e von Kindern und selbst die Rückführun­gsrichtlin­ie der EU, rügte Riebau. Laut einem UN-Bericht wurden in dem zentralasi­atischen Land allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres mindestens 653 Kinder bei Anschlägen und Gefechten getötet und 1483 weitere verletzt.

Laut einem UN-Bericht wurden in Afghanista­n in den ersten sechs Monaten dieses Jahres mindestens 653 Kinder getötet und 1483 weitere verletzt.

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Foto: AFP/Tauseef Mustafa Die Kindheit vieler Afghanen ist vom Krieg geprägt.

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