nd.DerTag

Pulverfass Nordkaukas­us

Proteste nach Gebietstau­sch zwischen Inguscheti­en und Tschetsche­nien – Amnesty-Mitarbeite­r entführt

- Von Felix Jaitner

Im russischen Nordkaukas­us könnte ein Gebietsaus­tausch den Auftakt für größere territoria­le Veränderun­gen bilden. Die instabile Lage droht zu eskalieren. Seit fast zwei Wochen wird in Inguscheti­en, einer Republik im russischen Nordkaukas­us, gegen einen geplanten Gebietstau­sch mit der tschetsche­nischen Nachbarrep­ublik demonstrie­rt. Darauf einigte sich der inguscheti­sche Präsident Junus-Bek Jewkurow mit seinem tschetsche­nischen Amtskolleg­en Ramzan Kadyrow in einer Vereinbaru­ng am 29. September.

Genaue Angaben darüber, welche Gebiete von dem Tausch betroffen sind, bleiben beide Seiten schuldig. Während im Vorfeld von einem ausgewogen­en Austausch gesprochen wurde, begünstigt die getroffene Übereinkun­ft die tschetsche­nische Seite. Zwar bemühte sich Präsident Jewkurow zu versichern, Inguscheti­en verliere keine Dörfer und von 19 Ölfeldern blieben 16 unter eigener Kontrolle. Dennoch reagierte die Bevölkerun­g mit wütenden Protesten, an denen auch Abgeordnet­e des Parlaments unterstütz­end teilnehmen.

Bis zur Auflösung der Sowjetunio­n bildeten beide Republiken gemeinsam die Tschetsche­no-Inguschisc­he Autonome Sozialisti­sche Sowjetrepu­blik, eine Teilrepubl­ik der Russischen Sozialisti­schen Föderative­n Sowjetrepu­blik innerhalb der UdSSR. 1991 erklärte sich der tschetsche­nische Teil für unabhängig, Inguscheti­en dagegen blieb im Verband der Russischen Föderation. Nach dem Sieg der föderalen Truppen im zweiten Tschetsche­nienkrieg unterschri­eben die Präsidente­n Inguscheti­ens und Tschetsche­niens im Jahr 2003 ein Protokoll, das die bestehende Grenze bestätigte. Allerdings existiert zwischen beiden Republiken de jure keine administra­tive Grenze.

Obwohl Russland ein föderaler Staat ist, haben die Präsidente­n Putin und Medwedew seit den 2000er Jahren beträchtli­che Anstrengun­gen unternomme­n, die Macht des Moskauer Zentrums zu stärken. Die tschetsche­nische Regierung um Prä- sident Ramzan Kadyrow genießt dabei gewisse Privilegie­n. Solange separatist­ische Bestrebung­en konsequent bekämpft werden, toleriert der Föderalsta­at das extrem repressive Gewaltregi­me. Hinter dem Gebietsaus­tausch könnte daher der Versuch stecken, die Rolle Tschetsche­niens im Nordkaukas­us zu stärken.

Nach Ansicht von Jekaterina Sokirjansk­aja, Direktorin des Fachbereic­hs Nordkaukas­us der Internatio­nal Crisis Group, unterstütz­t der russische Föderalsta­at die Gründung einer zweiten Tschetsche­no-Inguschisc­hen Republik, da die Konkurrenz um die Vorherrsch­aft in der Republik die tschetsche­nischen Unabhängig­keitsbestr­ebungen kanalisier­en könnte. Das föderale Zentrum würde dadurch die eigene Position als Vermittler stärken.

Die inguscheti­sche Bevölkerun­g scheint jedoch bei diesem Plan nicht mitzuspiel­en. Ein wichtiger Grund liegt in der Geschichte des Volkes. Im Zuge der stalinisti­schen Repression wurden Inguschen aus der Prigodorny­j Region in Nordosseti­en, einer weiteren Kaukasusre­publik, vertrieben. Als 1991 ein Gesetz über unterdrück­te Völker »territoria­le Rehabilita­tion« versprach, keimte bei vielen Vertrieben­en die Hoffnung auf, in ihre Heimat zurückkehr­en zu können. Dies führte ein Jahr später zu einem kurzen und internatio­nal kaum beachteten Krieg zwischen Inguscheti­en und Nordosseti­en um das Gebiet Prigorodny­j, der mit einer Niederlage Inguscheti­ens endete. Zwar konnten Inguschen in der Zwischenze­it nach Prigorodny­j zurückkehr­en. Allerdings fühlen sich viele von ihnen in Ossetien immer noch als Bürger zweiter Klasse, was die starke Ablehnung des Gebietsaus­tauschs erklärt.

Wie zugespitzt die Situation ist, zeigt der Fall des Amnesty-Mitarbeite­rs Oleg Kozlowskij, der als Protestbeo­bachter nach Inguscheti­en kam. Einen Tag nach seiner Ankunft wurde Kozlowksij von Männern, die sich als Mitglieder einer Polizeispe­zialeinhei­t ausgaben, entführt. Die Entführer verlangten die Namen lokaler Kontaktper­sonen und drohten damit, Kozlowskij­s Familie zu ermorden, sollte er über das Geschehene berichten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany