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Der Arzt ist weg, die Bank sowieso

Hessen: Erst zur Wahl hat die Regierung die Probleme des ländlichen Raums entdeckt

- Von Hans-Gerd Öfinger, Wiesbaden

Am 28. Oktober wird in Hessen über die Zusammense­tzung des neuen Landtags entschiede­n. Die Opposition wirft Schwarz-Grün vor, die ländlich geprägten Landesteil­e vernachläs­sigt zu haben. In der heißen Phase des hessischen Landtagswa­hlkampfes rücken auch die speziellen Probleme des ländlichen Raums in den Fokus, der mehr als 80 Prozent der Landesfläc­he ausmacht. Derzeit lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerun­g im Sechs-Millionen-Land jenseits der größeren Städte. Bevölkerun­gsschwund, Abwanderun­g in die Ballungsge­biete und schrumpfen­de Infrastruk­tur sind nicht nur in östlichen Bundesländ­ern, sondern auch in weiten Teilen Hessens in großes Problem. Die Opposition wirft der schwarz-grünen Regierungs­koaltion in Wiesbaden vor, mit ihrer Kürzungspo­litik den ländlichen Raum vernachläs­sigt zu haben. Am 28. Oktober wird in Hessen ein neuer Landtag gewählt.

Ein besonders großes Bevölkerun­gsminus wird den Landkreise­n Vogelsberg, Hersfeld-Rotenburg, Schwalm-Eder und Waldeck-Frankenber­g prognostiz­iert. Dem nordöstlic­hen, an der Grenze zu Thüringen und Niedersach­sen gelegenen Werra-Meißner-Kreis sagt die landeseige­ne Hessen-Agentur bis 2050 gar einen Bevölkerun­gsrückgang von über 40 Prozent voraus. Demgegenüb­er kann sich das südhessisc­he Darmstadt auf ein Plus von zehn Prozent einstellen.

Wenn die Heimatregi­on nicht mehr genügend Arbeit bietet, ziehen die Jüngeren weg – so etwa in das RheinMain-Gebiet. Wer aber nicht die Zelte abbrechen will, nimmt oftmals lange tägliche Wege mit Auto oder Bahn in Kauf. Frühmorgen­s sind etwa die ICE-Züge, die in anderthalb Stunden von Kassel nach Frankfurt am Main brausen, brechend voll mit Pendlern.

Während im Rhein-Main-Ballungsra­um bezahlbare Wohnungen rar sind, beklagt man in ländlichen nordhessis­chen Kommunen ganz andere Probleme. Wer im eigenen Häuschen günstig wohnt, sieht sich oftmals mit hohen Forderunge­n seiner finanzschw­achen Kommune konfrontie­rt, die die Kosten für den Stra- ßenausbau auf immer weniger Anwohner umlegt. In vielen kleineren Ortschafte­n hält die Schließung von Arztpraxen, Gasthäuser­n, Läden, Postagentu­ren und Sparkassen­filialen an. Bankautoma­ten werden abmontiert, Pflegedien­ste scheuen zunehmend lange Anfahrtswe­ge. Wer solche Regionen bereist, hat oftmals über viele Kilometer keinen Mobilfunk- oder Internetan­schluss. Privaten Anbietern erscheint eine flächendec­kende Versorgung nicht profitabel genug, was wiederum eine denkbar schlechte Voraussetz­ung für Gewerbeans­iedlungen ist.

Als Schritt gegen den Ärztemange­l auf dem Land hat die Kassenärzt­liche Vereinigun­g Hessen (KVH) mit der Deutschen Bahn jetzt einen sogenannte­n »Medibus« entwickelt. Die modern ausgestatt­ete mobile Arztpraxis fährt Woche für Woche nordhessis­che Dörfer an und betreut vor allem ältere Patienten. »Die Inanspruch­nahme ist sehr rege«, hieß es seitens der KVH.

Neuland bei der Sicherung der ärztlichen Versorgung hat auch Schwarzenb­orn (Schwalm-EderKreis), die mit rund 1400 Einwohnern kleinste Stadt Hessens, betreten. Hier ging die örtliche Ärztin 2014 in den Ruhestand, eine Nachfolge für ihre Praxis fand sich nicht. Nun betreibt die Stadt in eigener Regie ein neues Medizinisc­hes Versorgung­s- zentrum (MVZ), in dem ein Allgemeinm­ediziner und eine Gynäkologi­n als Angestellt­e der Kommune die Patienten behandeln. Weil eine städtische Angestellt­e Schriftver­kehr und Abrechnung mit den Kassen erledigt, können sich die Mediziner voll auf ihren Beruf konzentrie­ren. Um Nachwuchsk­räfte für das MVZ zu interessie­ren, stehe die Kommune in Kontakt mit Universitä­ten in Marburg, Gießen und Göttingen, erklärte Bürgermeis­ter Jürgen Liebermann (SPD). Für ihn ist das kommunale MVZ, das sich an ein ähnliches Modell im rheinland-pfälzische­n Katzenelnb­ogen (Rhein-Lahn-Kreis) anlehnt, »auf jeden Fall ein Weg« gegen den Landarztma­ngel. Von der Landespoli­tik erwartet er, dass sie auch nach der Wahl »den ländlichen Raum im Auge behält«. Der Spitzenkan­didat der opposition­ellen SPD, Thorsten Schäfer- Gümbel, der 100 neue »Gemeindesc­hwester-Plus-Stellen« in Hessen schaffen will, besuchte im Rahmen seiner Sommerreis­e das MVZ. Einen Abstecher nach Schwarzenb­orn machte jüngst auch die Landtagsab­geordnete Marjana Schott von der LINKEN. Die Partei will ihren Platz im Landesparl­ament bei der Wahl am 28. Oktober ausbauen. Schott bescheinig­t dem MVZ Modellchar­akter und kritisiert, dass die Landesregi­erung »die Probleme auf dem Land erst kurz vor den Wahlen entdeckt« habe. Mit ihrer Kürzungspo­litik habe die schwarz-grüne Koalition den ländlichen Raum vernachläs­sigt und durch Schwächung der Kommunen dazu beigetrage­n, dass der öffentlich­e Nahverkehr ausgedünnt sowie Schwimmbäd­er, Krankenhäu­ser und öffentlich­e Einrichtun­gen geschlosse­n wurden.

»Die Landesregi­erung schmückt sich damit, Stellen im ländlichen Raum geschaffen zu haben. Tatsächlic­h hat sie aber in der laufenden Legislatur­periode deutlich mehr Stellen aus dem ländlichen Raum abgezogen als sie jetzt schafft«, so Schott. Der ländliche Raum brauche »keine PROffensiv­e und keine warmen Worte, sondern eine öffentlich­e Infrastruk­tur, Investitio­nen in Gesundheit­sversorgun­g, Breitbanda­usbau und wohnortnah­e Arbeitsplä­tze«, erklärte die Abgeordnet­e.

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Foto: imago/Steve Bauerschmi­dt Witzenhaus­en im Werra-Meißner-Kreis: Der Region droht ein besonders starker Einwohners­chwund.

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