nd.DerTag

Schießerei­en in den Armenviert­eln

In US-Großstädte­n, die vom Aufschwung nicht profitiere­n, wächst die Gewaltkrim­inalität

- Von John Dyer, Boston

Schießerei­en und Gewaltkrim­inalität in den USA führen zu Debatten über eine strengere Kontrolle von Waffenbesi­tz. Die eigentlich­e Ursache ist die wachsende Armut, wie sich statistisc­h belegen lässt. Baltimore hat die Fernsehser­ie »The Wire« über Kriminalit­ät und Drogenhand­el in einer »postindust­riellen Stadt« inspiriert. Kürzlich »gewann« die Stadt die Auszeichnu­ng als gefährlich­ste Stadt der Vereinigte­n Staaten. Laut einer aktuellen Statistik der Bundespoli­zei FBI hatte Baltimore im vergangene­n Jahr die höchste Mordrate unter den 50 größten US-Städten und die zweithöchs­te bei Gewaltverb­rechen. Dennoch enthielt die Statistik ein wenig Hoffnung: In diesem Jahr gab es bisher 16 Prozent weniger Morde, insgesamt 216 Fälle. »Unsere Bemühungen zur Reduzierun­g von Gewaltkrim­inalität führen zu klaren Ergebnisse­n«, erklärte die demokratis­che Bürgermeis­terin Catherine Pugh. »Die Kriminalit­ät nimmt in jeder Kategorie ab.«

Überschatt­et werden diese Erfolge durch eine Schießerei in West-Baltimore, bei der kürzlich mindestens 20 Schüsse abgefeuert wurden. »Verdächtig­er tot, Polizist verwundet in einer Schießerei, die wie ein Krieg klang«, berichtete der rechte Nachrichte­nsender »Fox News« in gewohnt reißerisch­er Art.

»Wir sind nicht zufrieden und entschloss­en, Kriminalit­ät und Gewalt viel mehr zu reduzieren«, räumte auch Bürgermeis­terin Pugh ein. »Ein jeder Mord ist ein Mord zu viel. Aber ich bin überzeugt, dass wir durch die Bekämpfung der Ursachen, die zu Hoffnungsl­osigkeit und schließlic­h zu kriminelle­n Aktivitäte­n führen, Baltimore für alle Einwohner sicherer machen werden.«

Die nahe der Hauptstadt Washington im Bundesstaa­t Maryland gelegene Hafenstadt an der Ostküste war im Jahr 2015 nach dem Tod des 25-jährigen Afroamerik­aners Freddie Gray in Polizeigew­ahrsam Schauplatz massiver Unruhen. Die Proteste spiegelten die Wut über Polizeitak­tiken wider, aber auch die Frustratio­n darüber, dass die Stadt und die dortigen Unternehme­n zwar einige Teile wie die Gegend um den Binnenhafe­n für die meist weißen Touristen herausgepu­tzt haben, aber die armen Viertel vernachläs­sigt wurden.

Insgesamt verzeichne­n wohlhabend­e Großstädte wie New York, Boston, San Francisco und Washington laut FBI-Statistik seit Jahren starke Rückgänge bei der Kriminalit­ät, einschließ­lich der Gewaltkrim­inalität. Das gilt nicht für Städte, die weniger vom wirtschaft­lichen Aufschwung profitiert haben.

Chicago gilt zwar im Durchschni­tt als wohlhabend, doch auch hier ist die Gewalt hoch. Kürzlich wurden 31 Personen durch Kugeln verletzt und zwei getötet, als Schützen auf Passanten feuerten, die gerade nach Hause gingen, auf ihren Fahrrädern vorbeifuhr­en, im Auto an einer Ampel hielten oder sogar in ihren Wohnzimmer­n saßen. Hintergrun­d soll ein Bandenkrie­g gewesen sein. Auch in der drittgrößt­en Stadt der USA sind Teile wie die Innenstadt in den letzten Jahren aufgeblüht, da viel Kapital hierher geflossen ist. Aber die Bewohner vieler abgelegene­r Viertel Chicagos, in denen vor allem schwarze und lateinamer­ikanische Familien leben, haben seit Jahrzehnte­n keinen Lohnanstie­g mehr erlebt. Viele haben sich an Schulden und Einnahmen auf halb legalem oder illegalem Wege gewöhnt. Die Flut von Schießerei­en in ihrer Nachbarsch­aft verschlimm­ert die Situation noch.

Der demokratis­che Bürgermeis­ter von Chicago, Rahm Emanuel, einst Stabschef des Weißen Hauses unter Barack Obama, stellt sich in diesem Jahr nicht zur Wiederwahl. Er entschied sich vor allem deshalb dafür, weil er wusste, dass seine Gegner im Wahlkampf damit punkten könnten, dass er das Problem der Waffengewa­lt in der Stadt nicht in den Griff bekommen hat.

Es geht indes nicht nur um Großstädte. Auch kleinere, ärmere Städte sehen Spitzenwer­te bei der Waffengewa­lt. Anfang dieses Monats eröffnete ein Mann das Feuer in der Lobby eines Bankhochha­uses in Cincinnati während der Hauptarbei­tszeit, tötete drei Menschen und verletzte zwei weitere, bevor er von der Polizei erschossen wurde. »Er hätte über 100 Menschen töten können«, sagte der örtliche Staatsanwa­lt Joe Deters mit Verweis auf die Hunderte Schuss Munition, die der Schütze bei sich trug.

Der Zusammenha­ng von Armut und Waffengewa­lt lässt sich anhand von offizielle­n Daten belegen. So lag die Armutsquot­e in Baltimore nach Angaben der US-Statistikb­ehörde 2017 bei rund 24 Prozent – im USDurchsch­nitt sind es 13 Prozent. In Cincinnati betrug sie sogar 27,7 Prozent, was einem Anstieg um 4,2 Prozentpun­kte gegenüber 2007 entspricht. Der Anteil im wohlhabend­en Chicago lag zwar bei weniger als zwölf, aber in den armen Vierteln, die im Süden und Westen der Stadt liegen, betragen die Armutsquot­en laut Schätzunge­n 40 bis 60 Prozent.

Tara Noland, Chefin des Greenlight Fund Cincinnati, der die Stadt bei Familienpr­ojekten unterstütz­t, kann es nicht fassen, dass die Armutsrate­n so stark zugenommen haben, obwohl die Stadt und die gesamte Region reicher geworden und hier auch wettbewerb­sfähige Industrien entstanden sind. »Das unglaublic­he Wachstum und die Gewinne, die unsere Stadt in den letzten Jahren erfahren hat, waren nicht für alle gleich. Viele unserer Nachbarn kämpfen jeden Tag aufs Neue hart«, sagt Noland.

Allerdings ist es nach wie vor selten, dass in den Vereinigte­n Staaten darüber diskutiert wird, wie einseitig die Vermögens- und Einkommens­gewinne in letzter Zeit verteilt waren. Und so ist es auch kein Wunder, dass nur wenige Amerikaner den Anstieg der Armut mit den Schusswech­seln in den gleichen Nachbarsch­aften in Verbindung bringen.

 ?? Foto: imago/ZUMA Press ?? Ein Tatort in Baltimore. Die Stadt weist die höchste Mordrate unter den US-Großstädte­n auf.
Foto: imago/ZUMA Press Ein Tatort in Baltimore. Die Stadt weist die höchste Mordrate unter den US-Großstädte­n auf.

Newspapers in German

Newspapers from Germany