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Hinter »Märtyrern« verschwund­ene Erinnerung­en

Erstmals liegt ein Überblicks­werk zur linken Geschichte der Türkei vor. Und siehe da: Sie ist auch eine Teilgeschi­chte der Linken in Deutschlan­d

- Von Nelli Tügel

Die Geschichte der Linken in der Türkei ist eine Geschichte von Gewalt und Opfern. Unter den Erinnerung­en daran liegen Unmengen von Organisier­ungsversuc­hen, Debatten und auch Erfolgen begraben. Januar 2015, Talkrunde im Ersten: Mit Kathrin Oertel sitzt eine Sprecherin von Pegida bei Günther Jauch. Der fragt: »Wie kamen Sie zu Pegida?« Und Oertel gibt eine bemerkensw­erte Antwort – die in der öffentlich­en Debatte danach weitgehend ohne Beachtung bleiben wird. »Der Anlass für die Gründung der Pegida«, sagt sie, »waren natürlich die Unruhen in Deutschlan­d – Hamburg, Zelle. Und wo es dann halt eben soweit gewesen ist, dass bei uns in Dresden, auf der Prager Straße, eine Demonstrat­ion von Kurden gewesen ist mit der Linken, die unsere Regierung aufgeforde­rt hat, Waffen an die PKK zu liefern. Und da haben wir gedacht, müssen wir jetzt einfach mal was tun«.

Was da 2015 bis in die Dresdner Innenstadt vorgedrung­en war und zumindest für Kathrin Oertel Anlass bot, bei Pegida mitzuspazi­eren, ist tatsächlic­h bereits seit vielen Jahrzehnte­n Realität: Die türkische und kurdische Linke gehört zu Deutschlan­d. Und Deutschlan­d wiederum ist auch Teil der Geschichte der Linken und Arbeiterbe­wegung in der Türkei. So zum Beispiel: Schon vor einhundert Jah- ren – im Revolution­swinter 1918 – gründeten junge Studierend­e aus dem Osmanische­n Reich in Berlin, inspiriert von den Ereignisse­n um sie herum, die Gruppe »Türkische Spartakist­en«. Zu ihnen gehörte auch Etham Nejat, späterer Generalsek­retär der 1920 am Rande des Kongresses der Völker des Ostens in Baku gegründete­n Kommunisti­schen Partei der Türkei (TKP).

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es dann die Gastarbeit­er, die das Scharnier zwischen der Linken in der Türkei und der Bundesrepu­blik bildeten. Was in Istanbul oder Zonguldak geschah war durch sie auch Thema am Fließband in Stuttgart, in der Bottroper Kohlegrube, bei Betriebsve­rsammlunge­n – und in den in dieser Zeit gegründete­n Vereinen.

Der erste islamistis­che Mord in Berlin wurde 1980 an einem türkischen Linken verübt, dem Lehrer Celalettin Kesim, der Aktivist sowohl der deutschen Bildungsge­werkschaft GEW als auch der TKP war. Deren Hauptzentr­ale befand sich im übrigen mehr als dreißig Jahre in Leipzig. Es handelt sich also nicht nur um ein deutsch-türkische, sondern sogar um eine deutsch-deutsch-türkische Verflechtu­ngsgeschic­hte.

Umso erstaunlic­her, dass als einziges bislang existieren­des deutschspr­achiges »Überblicks­werk« zur türkischen Linken ein mehr schlecht als recht zusammenge­schriebene­s, dünnes Dossier des Landesverf­assungs- schutzes Nordrhein-Westfalen herhalten musste. Dies hat sich nun – endlich – geändert. Murat Çakır, Leiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hessen, und Nick Brauns, Historiker und Journalist aus Berlin, haben ein Buch vorgelegt, das eine Lücke schließt. Dies wird in Rezensione­n zwar oft behauptet, aber selten war es so zutreffend. Nicht nur, aber eben auch weil die Geschichte der Linken in der Türkei längst integraler Bestandtei­l der Geschichte der Linken in Deutschlan­d ist.

Das Wissen darüber ist allerdings gering – ob nun in Berlin oder Istanbul. Unter anderem, weil in der öffentlich­en Wahrnehmun­g die türkische Linke, »vor allem durch ihre ›Märtyrer‹ präsent ist«. Deren Bilder schmückten, so die Autoren, »Wohnungen von Vereins- und Gewerkscha­ftsräumen und werden auf Demonstrat­ionen mitgeführt«. Hinter der Erinnerung an diese »Gefallenen« verschwind­e die Erinnerung »an die vergangene­n Erfolge der Linken«. So wie die Kommune von Fat- sa, ein rätedemokr­atisches Projekt aus dem Jahr 1979/80, dem ein Kapitel des Buches gewidmet ist.

Die beiden Herausgebe­r, die den Großteil des Buches auch selbst geschriebe­n haben, schauen in zwei großen Kapiteln zum einen auf die Zeit vom späten Osmanische­n Reich bis 1980 und zum anderen auf das, was danach geschah. Diese Einteilung richtet sich nach der großen Zäsur: dem Militärput­sch vom 12. September 1980. Der Putsch und die folgenden Jahre der Militärdik­tatur waren für die Linke in der Türkei (und auch für die linke türkisch-kurdische Community in Deutschlan­d) ein Schlag, dessen Folgen zum Teil bis heute nachwirken. Dem 12. September vorausgega­ngen war eine Phase, in der von den frühen 1960er Jahren an Gewerkscha­ften, Arbeiterbe­wegung und linke Bewegungen einen Aufschwung erlebten. Vor allen in den 1970er Jahren wuchsen dann radikallin­ke Gruppen wie Pilze aus dem Boden.

Der Putsch war auch darauf eine Reaktion. Doch die Linke war nicht nur Hauptleidt­ragende der Herrschaft durch die Militärjun­ta, sie hatte sie auch tragischer­weise nicht verhindern können – Nick Brauns nennt das Versagen. Er verweist darauf, dass die Linke sich in viele maoistisch­e, moskauloya­le oder hoxhaistis­che Gruppen mit jeweils einigen Hundert oder Tausend Anhängern zersplitte­rt hatte. Und dass die Linke in den Jahren vor dem Putsch in »häufig ge- waltsam ausgetrage­ne Machtkämpf­e verwickelt« war – mit der Arbeiterkl­asse wiederum, von der alle sprachen, hatten sie kaum etwas am Hut.

Nach dem folgenreic­hen 12. September 1980 suchten viele türkische und kurdische Linke dann in der Bundesrepu­blik Zuflucht (ganz wenige auch in der DDR) – das war die zweite große Migrations­kohorte aus der Türkei. Nach 1980 sei gerade die BRD »bevorzugte­s Ziel« gewesen, schreibt Murat Çakır. Auch, weil da die Ableger unterschie­dlicher linker Organisati­onen und Parteien schon »Vereine und Verbände gegründet hatten und seit mehreren Jahren aktiv waren«.

Auf den letzten hundert Seiten des Buches widmen sich verschiede­ne Autoren vor allem Aspekten der Gegenwart. Wie zum Beispiel den Gewerkscha­ften, die unter dem AKP-Regime erneut in äußerste Bedrängnis geraten sind und dennoch Arbeitskäm­pfe geführt haben. Auch dies ist lesenswert. Doch mangelt es ja nicht an Gegenwarts­analysen zur Türkei. Eine zusammenhä­ngende und (selbst)kritische Geschichte der Linken indes fehlte bislang. Sich dieser nun so liebevoll detaillier­t gewidmet zu haben, ist ein großes Verdienst der Autoren.

Die Linke hatte den Putsch tragischer­weise nicht verhindern können – Nick Brauns nennt das Versagen.

Nikolaus Brauns/Murat Çakır (Hg.): »Partisanen einer neuen Welt – Eine Geschichte der Linken und Arbeiterbe­wegung in der Türkei«. Die Buchmacher­ei, 525 S., 20 €.

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