nd.DerTag

Die halbe Welt ist arm

In Deutschlan­d leben 16,2 Prozent der Bevölkerun­g in Mittellosi­gkeit

- Von Alina Leimbach

Berlin. Die Hälfte der Menschheit ist arm. Dies geht aus einem Bericht hervor, den die Weltbank am Mittwoch in Washington veröffentl­ichte. Demnach können 3,4 Milliarden Menschen mit ihren vorhandene­n Mitteln nur schwer ihre Grundbedür­fnisse wie ausreichen­d Nahrung und sauberes Wasser decken. Jeder zehnte Mensch lebt nach der Definition der internatio­nalen Organisati­on sogar in extremer Armut. Das heißt, er muss mit maximal 1,90 US-Dollar (1,60 Euro) am Tag über die Runden kommen. Zwar sinke diese Zahl – aber nicht schnell genug, um das Ziel der Weltgemein­schaft zu erreichen, bis 2030 die extreme Armut weltweit zu beenden, erklärte die Weltbank. Dabei konzentrie­rt sich die extreme Armut auf eine Region: 405 Millionen der 736 Millionen Menschen im untersten Einkommenz­ehntel leben in Afrika südlich der Sahara. In dieser Region nahm die Zahl der extrem Mittellose­n zuletzt sogar zu. Genauso wie in Nordafrika und dem Nahen Osten. In Asien und Lateinamer­ika ging sie hingegen zurück.

Doch Armut lässt sich nicht allein anhand einer einzigen Geldsumme messen. Wer arm ist und wer nicht, das hängt auch davon ab, wie viel Reichtum es in der Gesellscha­ft gibt, in der er oder sie lebt, und wie gleich oder ungleich dieser Reichtum verteilt ist. So leben trotz florierend­er Wirtschaft auch in Deutschlan­d mit 16,2 Prozent der Bevölkerun­g etliche Menschen in Armut. »Viele Menschen haben nicht genug zum Leben«, sagte die Sprecherin der Nationalen Armutskonf­erenz, Barbara Eschen, bei der Vorstellun­g ihres Schattenbe­richts am Mittwoch in Berlin. Dies treffe vor allem auf Arbeitslos­e zu. Doch schützt auch eine Arbeit immer weniger vor Mittellosi­gkeit. Durch Niedriglöh­ne und prekäre Jobs hat sich laut dem Bericht in den vergangene­n zehn Jahren der Anteil der armen Beschäftig­ten auf fast zehn Prozent verdoppelt.

Die Wirtschaft boomt – doch die Zahl derjenigen, die trotz Arbeit Hartz IV bekommen, hat sich in den letzten Jahren verdoppelt. Die Nationale Armutskonf­erenz sieht daher Handlungsb­edarf. Erst vor wenigen Tagen freute sich Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil (SPD): »Die Zahl der Arbeitslos­en ist im September im Vergleich zum Vorjahr um 192 000 auf 2,26 Millionen gesunken.« Positiv stimmte ihn auch auch die Entwicklun­g der Erwerbstät­igkeit und der sozialvers­icherungsp­flichtigen Beschäftig­ung.

Doch trotz dieser vorgeblich guten Nachrichte­n ist das nur ein Teil der Geschichte: Die Zahl der Menschen, die arm trotz Arbeit sind, ist so hoch wie selten. In Deutschlan­d hat sich der Anteil der sogenannte­n Working Poor in den vergangene­n zehn Jahren verdoppelt. Darauf wies die Sprecherin der Nationalen Armutskonf­erenz (NAK), Barbara Eschen, am Mittwoch bei der Vorstellun­g des dritten »Schattenbe­richts Armut« hin. Es gebe »enormen Handlungsb­edarf« bei der Bekämpfung von Erwerbsarm­ut.

So stieg laut der DGB-nahen HansBöckle­r-Stiftung zwischen 2004 und 2014 der Anteil der Armen unter den Erwerbstät­igen auf rund zehn Prozent gestiegen. In keinem anderen EU-Land ist dieser Anteil demnach so stark gewachsen wie in Deutschlan­d. Erwerbsarm zu sein meint, dass eine erwerbstät­ige Person in einem Haushalt mit einem verfügbare­n Einkommen unterhalb der Armutsgren­ze lebt. Arm ist dabei nicht statisch definiert. Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens eines Landes zur Verfügung hat, gilt allerdings als arm. »Rund eine Millionen Menschen beziehen derzeit Hartz IV, obwohl sie arbeiten«, kritisiert­e Eschen. Dazu kommt nach Schätzunge­n der NAK ein noch einmal höherer unsichtbar­er Anteil derjenigen, die keine Grundsiche­rung beantragen. Sei es aus Scham oder aus Unkenntnis.

Insgesamt müssten die Grundsiche­rungsbeitr­äge deutlich angehoben und die Sanktionen restlos abgeschaff­t werden, fordert die Nationale Armutskonf­erenz. Doch um den »Teufelskre­is von schlechter Arbeit, unzureiche­nder sozialer Absicherun­g und wachsender Armut zu durchbrech­en«, müsse man auch an das Thema Arbeitsbed­ingungen ran. Für die NAK heißt das: Die Mindestlöh­ne müssen steigen und prekäre Beschäftig­ung bekämpft werden. Dazu kommt, dass es überwiegen­d Frauen trifft, die zusätzlich zur Arbeit Grund- sicherung erhalten. Ihr Armutsrisi­ko sei noch erheblich höher als das von Männern. Die Nationale Armutskonf­erenz, ein Bündnis aus Sozialverb­änden und Gewerkscha­ft, spricht sich für eine Kindergrun­dsicherung und die Sanktionsf­reiheit von Kindern aus.

Interessan­terweise kommt auch von der UNO Rückenwind in dieser Frage. Deutschlan­d hat sich schon 1973 verpflicht­et, deren Sozialpakt umzusetzen. In den aktuellen Rückmeldun­gen zu den Ländern schreiben die Vereinten Nationen zu Deutschlan­d: »Das Komitee ist über die große Anzahl von Menschen, die in verschiede­nsten Formen prekärer Arbeit beschäftig­t sind, besorgt.« Sie empfiehlt daher ausgerechn­et dem derzeit so wettbewerb­sstarken und innovative­n Deutschlan­d, seine Anstrengun­gen »zu erhöhen«, angemessen­e Arbeit zu schaffen und atypischer Beschäftig­ung wie Minijobs, Zeit- oder Leiharbeit entgegen zu wirken. Diese Formen »atypischer Beschäftig­ung« wurden vor allem von der Regierung Gerhard Schröders (SPD) forciert.

Auch der Lohnexpert­e der HansBöckle­r-Stiftung, Torald Pusch, bekräftigt: »Deutschlan­d hat einen nicht unerheblic­hen Niedrigloh­nsektor. Alle, die bis etwa zehn Euro pro Stunde verdienen, zählen dazu«, sagte Pusch gegenüber »nd«. Etwas mehr als jeder Fünfte in Deutschlan­d befindet sich derzeit in einem solchen Beschäftig­ungsverhäl­tnis. Ein Problem, nicht nur im hier und jetzt, sondern auch später im Alter. Denn wer schon im Berufslebe­n arm ist, der schlittert später direkt in die Altersarmu­t. Pusch empfiehlt daher, den Mindestloh­n stärker als geplant anzuheben: »Es wäre sinnvoll, den Mindestloh­n einmalig spürbar anzuheben und ihn danach wie geplant an die Lohnentwic­klung anzupassen.«

Die Bundesregi­erung hat über die nächste Erhöhung des Mindestloh­ns noch nicht beraten. Sie muss die künftige Höhe des Mindestloh­ns per Verordnung umsetzen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sie der Empfehlung einer Kommission, bestehend aus Gewerkscha­ften und Arbeitgebe­rn, folgt, die 9,19 Euro für 2019 und 9,35 Euro für 2020 vorgeschla­gen hatte. Damit bliebe der Mindestloh­n weiterhin unter der Niedrigloh­nschallsch­welle.

 ?? Foto: Reuters/Pawel Kopczynski ??
Foto: Reuters/Pawel Kopczynski
 ?? Foto: dpa/Sebastian Willnow ?? In der Gastronomi­e ist das Lohnniveau besonders gering und das Arbeitsver­hältnis meist prekär.
Foto: dpa/Sebastian Willnow In der Gastronomi­e ist das Lohnniveau besonders gering und das Arbeitsver­hältnis meist prekär.

Newspapers in German

Newspapers from Germany