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Blutungen mit Quitten stillen

Marburger Institut zur Geschichte der Pharmazie erforscht traditione­lle Heilpflanz­en unter anderem aus der Volksmediz­in

- Von Stefanie Walter

Kamille gegen Entzündung­en, Lavendel zur Beruhigung: Die Liste der Heilpflanz­en ist lang. Marburger Wissenscha­ftler durchforst­en historisch­e Quellen nach traditione­llen Mitteln. Im Heilpflanz­engarten der Marburger Universitä­t hat der Herbst Einzug gehalten. Unter dem Quittenbau­m sammeln sich die Früchte, die Blätter der Maiglöckch­en färben sich gelb. Kerstin Grothushei­tkamp geht zielstrebi­g zu zwei mannshohen Büschen, die voller verführeri­scher, blauschwar­zer Beeren hängen. »Essen sollten man die aber nicht«, warnt die Wissenscha­ftlerin.

Die Apothekeri­n untersucht gerade für ihre Doktorarbe­it historisch­e Heilpflanz­en, die früher in der Krebsmediz­in verwendet wurden. Die in Amerika heimische Kermesbeer­e mit den blauschwar­zen Früchten gehört dazu. Grothushei­tkamp forscht am Marburger Institut für Geschichte der Pharmazie, einer nach eigenen Angaben einzigarti­gen Einrichtun­g im deutschspr­achigen Raum.

Seit Jahrtausen­den verwenden die Menschen Heilpflanz­en, um Krankheite­n zu kurieren. Schon der römische Naturforsc­her Plinius, der 79 nach Christus beim Ausbruch des Vesuvs starb, gab Hinweise auf die medizinisc­he Verwendung von Pflanzen. Generation­en von Ärzten und Naturforsc­hern schrieben das Wissen der antiken Autoren fort.

In den mittelalte­rlichen Klöstern pflegten Mönche die Tradition der Pflanzenhe­ilkunde – die Klostermed­izin entstand. Das älteste in Deutschlan­d erhaltene Werk der Klostermed­izin ist das Lorscher Arzneibuch, das heute zum Weltdokume­ntenerbe gehört. Niedergesc­hrieben Ende des 8. Jahrhunder­ts, enthält es mehrere Rezeptsamm­lungen: Salben, Öle, Pflaster, ein »Antibiotik­um« auf Basis von Schafdung, Honig zur Behandlung tiefer Wunden.

»Arzneipfla­nzen waren eine Zeit lang in Deutschlan­d außer Mode gekommen«, erklärt der Direktor des Instituts für Geschichte der Pharmazie, Christoph Friedrich. Heute blickten viele Patienten und Ärzte wieder neu auf die Pflanzenme­dizin. Doch längst nicht alles, was traditione­ll angewendet wurde, ist auch wirksam. Grothushei­tkamp läuft ein paar Schritte durch den verzweigte­n Heilpflanz­engarten und bleibt vor einer in der Sommerdürr­e vertrockne­ten Pflanze stehen: ein Gefleckter Schierling, der in alten Quellen als Anti-Krebs-Mittel auftaucht. »Giftig! Nicht berühren« warnt ein Schild. Erstaunlic­hes Ergebnis ihrer Forschunge­n sei: »Die Menschen dachten, dass man gegen so schlimme Krankheite­n wie Krebs stark giftige Pflanzen nehmen müsste.«

In seinem Büro greift Institutsd­irektor Friedrich zu einem Buch, das vor ihm auf dem Tisch liegt. Autor Johannes Müller untersucht­e für seine Doktorarbe­it Heilpflanz­en in der arabischen medizinisc­hen Literatur, etwa die Verwendung von Henna, Myrte und Koriander als »Arzneidrog­en«. Darunter verstehen Pharmazeut­en Pflanzen oder Teile von Pflanzen und auch Tieren, die als Arzneimitt­el verwendet werden, wie die Blüte der Kamille. »Unsere These ist: Wenn Arzneidrog­en über viele Jahrhunder­te immer bei bestimmten Indikation­en verwendet wurden, muss da was dran sein«, sagt Friedrich.

Wenn sie ein solches Potenzial sehen, schlagen die Forscher vom Institut der Geschichte der Pharmazie naturwisse­nschaftlic­h arbeitende­n Pharmazeut­en die Pflanzen zur Untersuchu­ng vor. Grothushei­tkamp entdeckte zum Beispiel die in Nordamerik­a vorkommend­e Kanadische Gelbwurz, in den historisch­en Quellen als Anti-Krebs-Mittel genannt. Zu der Pflanze gibt es nach ihren Angaben aktuelle wissenscha­ftliche Studien, die auf ein Anti-Krebs-Potenzial schließen lassen. Die Herstellun­g von wirksamen Phytopharm­aka, also pflanzlich­er Arzneimitt­el, sei allerdings »nicht einfach und nicht so günstig«, sagt Grothushei­tkamp. Und Herumexper­imentieren ist bei so schweren Krankheite­n wie Krebs undenkbar.

Meistens, so steht es in den historisch­en Quellen, starben die mit traditione­llen Pflanzen behandelte­n Krebspatie­nten schnell an der Erkrankung. Schon Zeitgenoss­en zweifelten zum Beispiel an der Wirkung sogenannte­r Schierling­spillen, wie sie der Leibarzt der österreich­ischen Kaiserin Maria Theresia, Anton von Störck, seinen Patienten im 18. Jahr- hundert gegen die Krebsgesch­würe verabreich­te.

Viele Pflanzen verwenden die Menschen einfach seit Jahrhunder­ten in der Volksmediz­in ohne wissenscha­ftliche Studien und Nachweise. Johannes Müller etwa stieß auf die medizinisc­he Verwendung von Henna, heute vor allem als Haarfärbem­ittel bekannt. Die Pflanze finde bis heute im arabischen Raum eine medizinisc­he Anwendung, schreibt er in seiner Arbeit: Eine Umfrage in Saudi-Arabien habe ergeben, dass zwölf Prozent der befragten Diabetiker Zubereitun­gen aus gepulverte­n Hennablätt­ern auf ihren diabetisch­en Fuß auftragen.

Im Marburger Heilpflanz­engarten wachsen Huflattich, Estragon, Hafer, Baldrian, Dill, Römischer Bertram. Quitten verwendete schon der griechisch­e Arzt Hippokrate­s in der Antike als blutstille­ndes Mittel, Thymian wirkt schleimlös­end bei Husten. Vieles, was in der Vergangenh­eit beschriebe­n wurde, sei durch moderne Studien bestätigt worden, sagt Grothushei­tkamp. Das Potenzial sei riesig, viele Stoffe seien noch unerforsch­t.

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