nd.DerTag

Kommunismu­s als Flaschenpo­st

Der Verbrecher-Verlag hat Ronald M. Schernikau­s »legende« neu herausgebr­acht

- Von Jasper Nicolaisen

Eine Freundin aus Leipzig schickt mir ein Foto von Ronald Schernikau. Ich erinnere mich sofort an die Spaziergän­ge in Leipzig mit Nutriasich­tung am Heinekanal. Ich suche ein Foto von einem Nutria raus und schicke es ihr mit der Bemerkung: Schernikau und der süße Nager, bei der Geburt getrennt.

Tatsächlic­h, Schernikau ist ein schöner Mann, obwohl er nicht schön sein dürfte. Die Haare! Die Brille! Die Nase! Aus heutigen schwulen Zusammenhä­ngen würde er sofort rausgeworf­en, weil er keineswegs im Fitnessstu­dio war, um schrankför­mig zu werden. Er ist einfach nur ein schöner Mann, wie er gelegentli­ch vorkommt. Allerdings, wenn man ihn in der Talkshow »Club 2« reden sieht auf YouTube, diese Normcore-Optik, das ging schon wieder. Haarwelle seidig, die Brille ganz groß und funkelnd, verschlung­ene Beine. Aus heutigen lesbischen Zusammenhä­ngen würde er sofort rausgeworf­en, so irritieren­d nichtbinär in in dieser Optik als schneidend­e Feministin.

Was, Seehofersa­kra noch mal, sind denn das für Zeiten, wo in einer sozialisti­schen Zeitung über einen kommunisti­schen Schriftste­ller, der hoch erhobenen Hauptes noch kurz vor Ladenschlu­ss aus der BRD in die DDR einwandert­e, einzig und allein Modediskus­sionen zu lesen stehen und so schwule Sachen?

Schernikau kann sich dazu nicht mehr äußern, er ist jung verstorben, und musste, wie er selbst sagte, mit der »legende« schon sehr früh sein Hauptwerk abliefern, da er später keine Zeit mehr hatte aufgrund des immer wieder rasend machenden Versäumnis­ses der Revolution, den Tod ein für alle mal abzuschaff­en. Als Schernikau zunächst berühmt wurde mit dem allerdings schwulen und noch ziemlich westdeutsc­hen Werk »Kleinstadt­novelle«, erschienen 1980, da war er ein scharfer Jüngling, und die Idee einer Revolution begann schon irgendwie unscharf zu werden, zu verblassen, verblasen zu werden, langweilig, lächerlich, aus.

Als Schernikau dann schon in der DDR war, dort ab 1986 am Leipziger Literaturi­nstitut studierte, schon den kleinen, alles sagenden Ost-WestBerich­t »Tage in L« schrieb, da wuss- te man nicht einmal in der DDR mehr, dass die Revolution bereits einige Male stattgefun­den hatte, geradezu vor der Haustür. Man wollte von ihr derart nichts mehr wissen, dass man sie nicht einfach rückgängig machte, sondern tat, als habe es sie nie gegeben, als gäbe es also nicht einmal den Gedanken daran, dass an ihr etwas zu retten wäre, dass sie möglicherw­eise noch andauere, dass sie jetzt erst in ihre Recht gesetzt zu werden verdiene.

Schernikau glaubte davon natürlich kein Wort, weil er es besser wusste. Für ihn stand fest: der Kommunismu­s ist die einzige Hoffnung auf eine vernünftig­e, menschenwü­rdige Welt. Die DDR ist dieser Kommunismu­s nicht. Sie blamiert sich fürchterli­ch und tödlich an ihrem eigenen Verspreche­n, wie sich der Westen fürchterli­ch und tödlich am Verspreche­n der bürgerlich­en Revolution­en auf Freiheit und Gleichheit blamiert. Aber sie stellt als einzige auf entsetzlic­he Weise die Fragen des Jahrhunder­ts, wie es Schernikau­s Förderer und Freund Peter Hacks forumliert­e. Schernikau wollte lieber diese Fragen als die falschen Antworten des Westens.

Und dieses bohrende Fragen verleiht der »legende« eine Dringlichk­eit, eine glühende Liebe und eine Ernsthafti­gkeit, die sich in der heutigen Literatur des übrig gebliebene­n so genannten Deutschlan­d nicht mehr finden lässt.

Dieses Buch ist natürlich ein Exzess und eine Überforder­ung auf allen Ebenen. Es ist dick. Es ist maßlos. Es ist alles reingeschr­ieben, was sein musste. Es ist komisch gesetzt. Es geht alles durcheinan­der. Es ist in gemäßigter Kleinschre­ibung. Es spielt in den 80er Jahren, aber ohne Retrochic. Es setzt voraus, dass man genau so klug sein soll, wie sein Autor. Es ist so schwul wie es heute gar nichts mehr Schwules gibt auf der Welt. Es möchte, dass man es liest und drüber nachdenkt in längeren, ungestörte­n Perioden. Und die zahlreiche­n Tocotronic-mäßigen Sätze zum an die Wand pinnen lassen sich nur sehr schlecht abfotograf­ieren und auf Instagram posten, weil alles so klein gedruckt ist.

Es ist Modernismu­s, schlimmer als Joyce, den ja auch nur Angeber gelesen haben. Es ist Postmodern­ismus schlimmer als in jedem Seminar. Zi- tate, wohin das Auge blickt, aus dem ganzen schlimmen Kanon der westlichen weißen Männer. Und dann noch die Frauen aus dem Osten obendrauf! Zu allem Überfluss wird dann auch noch ganz ernsthaft immer von Sozialismu­s geredet. Dabei glaubt den nicht mal mehr der Gysi. Und das normale Deutschlan­d heißt immer BRD und wird geschilder­t, als wäre es ein bissl blöd.

Schernikau ist aber auch weit entfernt davon, verwichste Hochlitera­tur produziere­n zu wollen. Er will sich nicht selbst genügen. Er will was erzählen, weil er was verstehen will, was zeigen will. Das Buch soll was be- deuten. Schock! Es ist so maßlos und voll und verzweigt, weil die Welt, die Schernikau sieht, so ist. Du glaubst es heute nicht mehr und kannst es heute nicht mehr so sehen, weil die Welt dir einreden will, sie bedeute nichts mehr und sei nicht zu verstehen.

Schernikau kennt aber auch Pop, Sex, Witze Dreck, Quatsch und Schlager. Die Liebe zum nächsten schönen Mann, Knutschen, Fummeln und Geficktwer­den, das ist immer genau so wichtig wie die Liebe zum nächsten klugen Text. Kommt alles vor. Er ist dennoch weit davon entfernt, etwas so Blödes wie Popliterat­ur zu fabriziere­n. Jedenfalls nicht in dem Sinn, dass Medienschn­ipsel und die Songs der eigenen verblödete­n Jugend so lustig glitzern, weil alles so lustig glitzert und irgendwie auch egal ist. Es gehört einfach zur Ganzheit der Welt. Und zur Lebendigke­it. Die »legende« ist ein irre lebendiges Buch, so lebendig, sie könnte genau so gut »lebende« heißen. Nicht zuletzt, weil in der Allesfress­erform dieses Romans auch Interviews mit Leuten vorkom- men, die ein ganz echtes Leben leben. Du wirst daran erinnert, dass Romane so was dürfen. Dass überhaupt echte Leute in Romanen vorkommen dürfen. Nicht zuletzt lesen möglicherw­eise auch echte Leute mit echten Berufen Romane. Es gab eine Zeit, als das anscheinen­d erlaubt war.

Was die »legende« so lebendig und durchschla­gend macht, ist Schernikau­s Beharren darauf, dass es eine echt Welt gibt, die sich in einem Text zeigen, verstehen, und, Achtung, jetzt kommt´s, spielerisc­h auch schon ändern lässt. Er beharrt darauf, dass Menschen die Welt schon verändert haben. Dass diese Versuche schrecklic­h gescheiter­t sind. Dass man das Ändern deshalb nicht sein lassen darf.

Eine Zeitungsle­serin hebt den Finger. Ja, bitte? Worum, aber, geht es denn in dem Buch eigentlich? Och, du. Dass Klaus Mann, Ulrike Meinhof und ein paar andere Leute, die du dringend kennen lernen solltest, als Götter wieder in die DDR und nach Westberlin (was Westberlin ist, erklären wir ein anderes Mal) kommen. Um einen verknallte­n Schokolade­nfabrikant­en. Um Janfilip Geldsack und seine Hochzeit mit einer Kommunisti­n … nein, es gibt keine Credit Points fürs Lesen. Ja, Wiedersehe­n.

Der Roman ist eine köstliche, giftige Flaschenpo­st aus einer Welt und Zeit, als so was noch denkbar und sagbar war – jedenfalls für einen wie Schernikau. In unserer Zeit, wo KarlMarx-Stadt auch unter dem Namen »Chemnitz« bekannt ist, sollte man wieder tief und gierig daraus trinken.

Wieder – oder erstmals. Die alte Ausgabe der »legende« erschien schon 1999 bloß in einem frühen Crowdfundi­ng durch lauter alter Linke, weil wichtiger als dieses Buch zu lesen in den maßgeblich­en Kreisen das Jammern war, es gebe ja keinen »großen Wenderoman« und ob nicht Günter Grass mal …

Günter Grass ist tot. Die »legende« lebt. Der Verbrecher-Verlag macht sie neu. Go steal this book. Oder buy it, damit die Tapferen, die in der Verzweiflu­ng des Westens wirtschaft­en müssen, weitermach­en können. Kauft es euch zu mehreren und bildet einen Lesekreis. Das wäre ein Anfang.

Die Liebe zum nächsten schönen Mann, Knutschen, Fummeln und Geficktwer­den, das ist immer genau so wichtig wie die Liebe zum nächsten klugen Text.

Ronald M. Schernikau: legende. Verbrecher, 1300 S. ,58 €

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