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Land im Umbruch

Aktivisten der 68er Bewegung forderten demokratis­chen Sozialismu­s – Partei und Staat nicht

- Von Krunoslav Stojaković, Belgrad Krunoslav Stojaković ist Büroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Belgrad.

Jugoslawie­ns 68er überholten die Partei von links.

Die jugoslawis­che Studentenb­ewegung forderte eine Rückkehr zur Verfassung und meinte damit eine Verwirklic­hung der revolution­ären Programmat­ik. Damit trat sie der Staats- und Parteielit­e auf die Füße. «Wir haben kein eigenes Programm», verlautbar­ten die jugoslawis­chen Student*innen auf dem Höhepunkt ihrer Revolte im Juni 1968. »Unser Programm sind die Verfassung und das Parteiprog­ramm des Bundes der Kommuniste­n Jugoslawie­ns!«

Was hier als staatstrag­endes Bekenntnis daherkommt, war in der politische­n Praxis eine subversive Kritik an den gesellscha­fts- und wirtschaft­spolitisch­en Realitäten im sozialisti­schen Jugoslawie­n. Die beflissent­liche Anrufung der wichtigste­n programmat­ischen Akte des Staates als Kronzeugen ihrer Anklage bedeutete für die revoltiere­nden Studierend­en an den Universitä­ten in Belgrad, Zagreb und anderswo die Möglichkei­t, auf der Grundlage einer weithin anerkannte­n und legitimier­ten Ordnung eine linksradik­ale Kritik an Staat und Partei zu formuliere­n. Einerseits konnten sich die Student*innen auf die in diesen Dokumenten formuliert­en Werte und Ziele des jugoslawis­chen Selbstverw­altungssoz­ialismus berufen, um den tatsächlic­h erfahrenen Lebensallt­ag zu kritisiere­n. Anderersei­ts traten sie auch ausdrückli­ch für die dort formuliert­e Gesellscha­ftskonzept­ion ein, engagierte­n sich und trieben den Bund der Kommuniste­n politisch vor sich her. Weder das Parteiprog­ramm noch die Verfassung der als selbstverw­altet, föderal und sozialisti­sch definierte­n Republik stellten für die Studierend­en eine Formalität dar, derer man sich lediglich instrument­ell bediente um Kritik zu üben, an deren politische­n Wert aber ansonsten grundsätzl­ich gezweifelt würde. Im Gegenteil: Zusammen mit vielen Intellektu­ellen, Künstler*innen, Universitä­tsprofesso­r*innen, aber auch arrivierte­n Parteimitg­liedern klagten sie den Bund der Kommuniste­n an, sich von den proklamier­ten Grundsätze­n der sozialisti­schen Selbstverw­altung zu entfernen. Sie beschuldig­ten den Bund der Kommuniste­n der Verbürgerl­ichung und der vorauseile­nden Implementi­erung kapitalist­ischer Produktion­sbeziehung­en, um an Westkredit­e zu gelangen. Außerdem übten sie Kritik an der unvollkomm­enen Entstalini­sierung nach dem Bruch mit Moskau 1948. Die Bürokratie liege weiterhin wie Mehltau über der Gesellscha­ft, verhindere die umfassende Durchsetzu­ng der sozialisti­schen Selbstverw­altung, während der Bund der Kommuniste­n das ideologisc­he Monopol unveränder­t für sich in Anspruch nehme und, wo nötig, auch repressiv durchsetze.

In der internatio­nalen Geschichte der Arbeiterbe­wegung hat die Kommunisti­sche Partei Jugoslawie­ns mehrfach ihren Eigensinn bewiesen. Weder in ihrer ideologisc­hen Aus- richtung während des Partisanen­kampfes 1941-1945, noch in ihrem Auftreten nach 1945 ließ sie sich politisch Bevormunde­n. So wie sie im Partisanen­kampf – trotz Volksfront­politik – schon Ende 1941 die Gründung der Ersten Proletaris­chen Brigade unter Führung des Surrealist­en, Spanienkäm­pfers und Kommuniste­n Konstantin «Koča» Popović initiierte, scheute sie auch 1948 nicht den Konflikt mit der Sowjetunio­n und proklamier­te im Juni 1950 die Einführung der Arbeiterse­lbstverwal­tung. Mit der 1952 erfolgten Umbenennun­g in «Bund der Kommuniste­n Jugoslawie­ns» wollte sie zudem nicht mehr ideologisc­her Lehrmeiste­r, sondern politische­r Partner im jugoslawis­chen Selbstverw­altungssys­tem sein. Diese Atmosphäre einer relativen gesellscha­ftspolitis­chen Offenheit begünstigt­e schon ab den 1950er Jahren kritische Interventi­onen in der Öffentlich­keit. Die Reflexione­n und Analysen des später geschasste­n Milovan Đilas zur permanente­n Notwendigk­eit der Demokratis­ierung von Staat und Partei waren nicht grundsätzl­ich problemati­sch für den Bund der Kommuniste­n. Schließlic­h veröffentl­ichte er über ein Dutzend Artikel in der Parteizeit­ung Borba (Kampf). Problemati­sch, das heißt vom Bund der Kommuniste­n als inakzeptab­el betrachtet, waren Artikel, die sich explizit an die Partei wandten und detaillier­t die bürgerlich­e Lebensweis­e führender Parteimitg­lieder und ihrer Ehefrauen beschriebe­n. Die Reaktion des Bundes der Kommuniste­n darauf war kompromiss­los und zeichnete die Haltelinie ein bis zu der – trotz aller formal eingeleite­ten Demokratis­ierung – Kritik geübt werden durfte ohne politisch sanktionie­rt zu werden: Allgemeine Kritik wurde toleriert, konkrete Kritik am Bund der Kommuniste­n hingegen sanktionie­rt.

Trotz der Affäre mit Đilas entwickelt­e sich ab Mitte der 1950er Jahre ein tolerantes intellektu­elles Klima, in dem einst politisch geförderte Dogmen wie der sozialisti­sche Realismus oder die Abbildungs­theorie an Bedeutung verloren. Allen voran in Zagreb, Belgrad und Ljubljana entwickelt­en sich allmählich intellektu­elle und künstleris­che Zirkel, die mit ihren subversive­n Aktionen und Wortmeldun­gen nicht nur ein wichtiges gesellscha­ftliches Korrektiv darstellte­n, sondern auch ein junges, seinen politische­n Grundprämi­ssen und seinem Habitus nach linksradik­ales, alternativ­es Milieu maßgeblich beeinfluss­ten. Aus diesem Milieu entwickelt­e sich schließlic­h jene kritische Masse linker Aktivist*innen, die im Juni 1968 Belgrad zu einem wichtigen Ort der internatio­nalen Studentenb­ewegung werden ließen.

Zum intellektu­ellen Stichwortg­eber der Bewegung avancierte die in Zagreb erscheinen­de Zeitschrif­t »Praxis«, deren Mitarbeite­r sich als Teil der weltweiten Neuen Linken verstanden – mit Zagorka Golubović gehörte allerdings nur eine Frau dem erweiterte­n Redaktions­kollektiv an. Im Unterschie­d zu Đilas, der sich in seinen weiteren Schriften deutlich vom Sozialismu­s entfernte, traten die Autoren der »Praxis« für eine radikalere Umsetzung der sozialisti­schen Selbstverw­altungspri­nzipien ein. Ihre Bürokratie- und Staatskrit­ik wurde zum »common sense« der radikalen studentisc­hen Linken.

Wie reagierte der jugoslawis­che Staats- und Parteiappa­rat auf die Studentenb­ewegung und ihre intellektu­ellen Stichwortg­eber? Nach längerem Zögern, und durchaus vorhandene­n Planspiele­n einer polizeilic­hmilitäris­chen Aktion, entschied sich Staatspräs­ident Tito zur politisch denkbar klügsten aller möglichen Reaktionen: Er gab den Studierend­en Recht, rief sie zur Fortsetzun­g ihres Studiums auf und gelobte Besserung. In seiner Radio- und Fernsehans­prache ebenso wie in der darauffolg­enden Berichters­tattung und parteiinte­rnen Dokumenten vergaß die Parteiführ­ung jedoch nicht darauf hinzuweise­n, dass in all dem rührenden Enthusiasm­us der Jugend auch staatsfein­dliche, antisozial­istische Kräfte am Werk gewesen seien, mit denen früher oder später abgerechne­t werden müsse. Die Abrechnung, zunächst in Form von Parteiauss­chlüssen, erfolgte sukzessive, betraf zunächst einige der bekanntest­en Philosophe­n aus dem Umkreis der »Praxis«, weitete sich dann auf die studentisc­hen Wortführer und die Studentenp­resse aus und endete Mitte der 1970er Jahre in Lehrverbot­en für acht Belgrader Professor*innen. Die Zeitschrif­t »Praxis« und der von ihren Mitarbeite­rn organisier­ten Sommerschu­le auf Korčula wurden eingestell­t.

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Foto: dpa
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Foto: dpa-Report Protestier­ende Studenten auf einer Kundgebung im Belgrader Universitä­tsviertel im Juni 1968

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