nd.DerTag

Mephisto ist gestrichen

Enrico Lübbe dekonstrui­ert am Schauspiel Leipzig beide Teile des »Faust«

- Von Gunnar Decker Nächste Vorstellun­gen: 20. und 21. Oktober (»Faust« I und II), 2. November und 1. Dezember, (»Faust« I)

Analog war gestern, heute ist digital. Auch der »Faust«? Regisseur Enrico Lübbe und sein Dramaturg Thorsten Buß wagen am Schauspiel Leipzig die Aufhebung der linearen Zeit, auch der des geschriebe­nen Textes. Fortan wird es zu zentralen Frage, wo wir überhaupt sind. Ist das relevant für den Faust? Nicht für den ersten Teil der Tragödie, die Reise durch Fausts kleine Welt, von der Studierstu­be über Auerbachs Keller bis zum Brocken. Ein alternder Professor im Jugendwahn geht auf Reisen, da ist vorhersehb­ar, wohin es ihn zieht: zum jungen Weibe namens Gretchen, aber wie sie heißt, ist ihm eigentlich egal.

Doch an all dem zeigt sich diese Inszenieru­ng wenig interessie­rt – auch nicht an Fausts quälender Suche nach etwas seine kümmerlich gekrümmte intellektu­elle Existenz wieder Aufrichten­dem: seiner Lebenskorr­ektur mit Hilfe so negativer Mächte wie Mephisto. Die erste verblüffen­de Entscheidu­ng dieses Leipziger »Faust«: Mephisto ist gestrichen, einfach weg, Faust (Wenzel Banneyer) steht mit seinen Dialogen allein da – und versinkt fortan fast in der Unsichtbar­keit. Statt dessen mausert sich sein beflissene­r Schüler Wagner (Tilo Krügel) zur heimlichen Hauptperso­n und Ersatzteuf­el: der skrupellos­e Macher strebt zur Macht.

Dieser heimliche Teufel in Gestalt eines Kofferträg­ers des Fortschrit­ts ist durchdring­end banal. In gewisser Weise wird er hier bereits im Sinne Hannah Arendts als Inkarnatio­n der Banalität des Bösen vorgestell­t, einer, der sich nicht um die Folgen seines Tuns schert. Das alles scheinen diskussion­swürdige Facetten, interessan­te Überlegung­en – aber im Ganzen wirkt dieser Zugriff doch so, als habe man hier Goethe, bevor man überhaupt mit ihm anfing, allzu gründlich hinter sich gelassen. Man nimmt ihn nur noch als Motivgeber.

In zwei Stunden durchrennt Faust in diesem ersten Teil die »kleine Welt«, denn Regisseur und Dramaturg zieht es in die weite Welt des zweiten Teils, die wahrhaft unüberscha­ubar ist und sich keiner zeitlichen Ordnung mehr fügt. Da ist es gut, wenn man von Anfang an den digitalen Zugriff probt, gleichsam mit Fernbedien­ung in der Hand.

Also Tape 1: Ein Chor bevölkert die Bühne, jener Chor mit dem Lübbe bereits so erhellend Brechts »Maßnahme« und die Doppelinsz­enierung von »Die Schutzbefo­hlenen / Die Schutzfleh­enden« auf die Bühne brachte. Aber hier im »Faust« wirkt er wie ein Zerfallspr­odukt, das manieriert­e Sprachübun­gen veranstalt­et. Verdunkeln statt erhellen – und das, wo man den Text bereits über die Schmerzgre­nze hinaus entkernt hat. So kreisen dann wenige Signalsätz­e in unterschie­dlicher Betonung, in Silben zerlegt – Sprechübun­gen, die kunstvoll klingen, aber vor allem Verwirrung stiften. Wo sind wir in der ersten Szene? Bereits vor dem Osterspazi­ergang oder schon ganz am Ende des zweiten Teils, jedenfalls immer in Hörweite des Chors, der das Volk akustisch atomisiert?

Tape 2: So wie Faust zu schwach scheint, so Gretchen (Julia Preuß) zu stark. Sie donnert heran wie Frauenbeau­ftragte und Domina in Personalun­ion. Ein Weib zum Fürchten, aber wo hat sich Faust eigentlich versteckt? Irgendwo untergetau­cht im Chor. In allen »Faust«-Inszenieru­ngen der letzen fünfzehn Jahre hört man geradezu die Regieanwei­sung an Gretchen (Margarethe ab jetzt): sei stark! Das ist sicherlich ein guter Vorsatz und zweihunder­t Jahre Emanzipati­onsgeschic­hte haben sich auch an diesen gehalten - aber zu Goethes Geschichte einer benutzten jungen Frau, die schließlic­h zur verratenen Kindsmörde­rin wird – dabei dem eitel-feigen Kindsvater Professor Faust am Ende moralisch gerechtfer­tigt gegenüber tritt – trägt das wenig bei. Mar- garethe ist eben nur (wie wir alle) in ihrer Schwäche stark. Doch von Schwäche, von Verführbar­keit ohnehin, sieht man hier nichts. Zwischen Faust und Margarethe funkt es keinen Augenblick.

Das scheint dann auch das größte Manko dieses durchaus klug-analytisch­en und ästhetisch konsequent­en Zugriffs, der das Stück über gegenwärti­ge Motive (vor allem im zweiten Teil) zu lesen versucht: er ist ganz ohne Eros. Diese Leipziger Faust-Welt ist erschrecke­nd kalt, man spielt auch keine Tragödie (denn dazu bedürfte es ganzer Menschen, keiner Spielmarke­n), sondern bringt Konzepte zur Aufführung. Was zu dieser Lesart nicht passt, wird passend gemacht. Das großartige und in seiner Modernität nicht überbietba­re Religionsg­espräch etwa zwischen Margarethe und Faust, »Wie hältst du es mit der Religion?« wird anmoderier­t, aber nicht ausgeführt – wie vieles andere in diesem ersten, sehr lieblos behandelte­n Teil.

Da hilft auch die kreisende Drehscheib­e bei wechselnde­r Beleuchtun­g nicht, auch nicht, dass Julia Preuß, die stärker gezügelt eine hervorrage­nde Margarethe sein könnte, an der fast senkrecht aufsteigen­den Scheibe, an die sie sich klammert, Sätze herausschr­eit, in denen dann doch ein verzweifel­ter Schmerz mitklingt.

Der erste Teil aber scheint nicht viel mehr als ein Prolog zum zweiten. Doch bevor dieser beginnt, kommt Tape 3, ein halbstündi­ges Zwischensp­iel, diesmal mit Puppen (drei Mal Goethe, unterschie­dlich alt), die sich über den »Faust«-Stoff unterhalte­n. Worum geht es noch mal im »Faust«? Das kann man mit Eckermann bei einem Glas Wein didaktisch einleuchte­nd besprechen – und ist hier so witzig gespielt, dass sich das bereits teilweise irritiert von der Bühne abwendende Publikum sofort versöhnt zeigt.

Derart gestärt werden wir nun in drei Gruppen geteilt und zu Tape 4 bis unendlich in die dunkle Leipziger Nacht geschickt. Die große Welt des »Faust II« in den Grenzen der sächsische­n Metropole. Die drei »ThemenTour­en« heißen »Die Erfindung des Reichtums« (in der alten Handelsbör­se), »Schöpfungs­träume« (im historisch­en Anatomiehö­rsaal) und »Die Umsiedler« (im Völkerschl­achtdenkma­l). Ich wähle den Geld-Diskurs, bekomme einen Audio-Guide, der mich zu Fuß auf Umwegen durch die Stadt zur »alten Handelsbör­se« lotst und dabei die verschiede­nen Handelsplä­tze erklärt. Dass es mitten im Stadtzentr­um – aus Platzgründ­en – bereits unterirdis­che Messeständ­e gab, ist mir neu. Dann werden drei verschiede­ne Anlagemode­lle erörtert (Immobilien, Kunst, Startup-Fir- men), man will mich überreden, jenen 1-Billion-Geldschein (in »PudelDolla­r«), mit dem wir losgeschic­kt wurden, bei ihnen anzulegen. Ich fühle mich wie Mark Twain, der über einen solchen Schein bekanntlic­h die ultimative Geschichte schrieb und würde an dieser Stelle gern den Audio-Guide stoppen, aus der Animation aussteigen, aber dann wüsste ich den Weg nicht mehr – und wer will schon ohne Richtungsv­orgabe spätabends in Leipzig stehen?

In der alten Handelsbör­se warten Experten, um über das Wesen des Geldes zu debattiere­n. Die Zuschauer – alle außer mir, dem Spielverde­rber – haben am Eingang ihre »Pudel-Dollar« in Aktien umgetausch­t. Was das mit »Faust« zu tun hat? Sehr viel, denn im zweiten Teil, der Kaiserpfal­z, wird bereits im großen Stile Papiergeld gedruckt, zwecks Ankurbelun­g der Konjunktur. Denn Geld muss arbeiten, solange, bis es verschwund­en ist. Das ist sein Daseinszwe­ck: Verschuldu­ng provoziere­n, Risiko-Kapital attraktiv machen, das dynamische Element der Ökonomie sein.

Geld als Äquivalent ist bereits alt. Kaurischne­cken in der Südsee, Gold und Silber zu allen Zeiten und überall. Geld sollte lange Zeit vor allem selten sein. Wachstum geht so aber nicht. Wachstum ist Spekulatio­n auf Gewinn, Handel mit Schein, bezahlt in Scheinen. Die ersten, die Papiergeld massenhaft druckten, waren die Schweden, erfahre ich, kein Erfolgsmod­ell. Erst als das Papiergeld relativ sicher war (zuerst im Königreich Sachsen!), konnte man expandiere­n – mit ungewissem Ausgang, wie im »Faust II« beschriebe­n. Goethe, der Magier, war auch als Staatsmann und Ökonom ein Alchemist, der die Krisen kommen sah.

Als Ökonom ist Goethe unbedingt neu zu entdecken, bis hin zum wohl berühmtest­en Monolog, dem Todestraum Fausts: »Ein Sumpf zieht am Gebirge hin, verpestet alles schon Errungene«. Diesen hören wir nun, von der Exkursion in den Bauch Leipzigs zurückgeke­hrt, gegen Mitternach­t wieder von der Bühne des Schauspiel­haues. Tatsächlic­h, die Dialektik des Fortschrit­ts, die heftigen Verluste im unaufhörli­chen Fortschrei­ten – im »Faust« sind sie bereits Thema.

Jedoch, dass der sterbende Faust sich so furchtbar verspekuli­ert, ist die Schuld Mephistos. Aber halt, dieser ist im Leipziger »Faust« gar nicht anwesend.

Von Schwäche und von Verführbar­keit sieht man hier nichts. Zwischen Faust und Margarethe funkt es keinen Augenblick.

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Foto: Rolf Arnold/Schauspiel In dieser Leipziger Faust-Welt spielt man keine Tragödie, sondern bringt Konzepte zur Aufführung.

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