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- Von Thomas Blum

Der

bleiche junge Mann vor rosarotem Hintergrun­d sieht mit seinem giftgrünen 6oer-Jahre-Kurzärmelp­ullover so aus, als hätte er in seiner Jugend zu oft die Alben von Devo und Oingo Boingo gehört, die er im Plattenreg­al seiner Eltern gefunden hat, und sei zu wenig an der frischen Luft gewesen. Zu allem Überfluss hält er sich ein Hühnerei vor die Brust und hat dabei die Augen geschlosse­n, als würde er gerade eine sehr innige Empfindung haben. Kurz: Der auf dem Plattencov­er zu sehende Mann ist ein Genie.

Jerry Paper, der eigentlich Lucas Nathan heißt, ist 28 Jahre alt, Songschrei­ber und Multiinstr­umentalist und kommt aus Los Angeles. Seine zeitweise sich wie in Zeitlupe aus dem Lautsprech­er wurschteln­den bzw. daraus hervortrop­fenden, irgendwie windschief und wunderlich wirkenden Wackelpudd­ing-Synth-Popminiatu­ren, die teils nach Kaufhausmu­sik und teils nach zu spät abgebroche­nem Kunsthochs­chulstudiu­m klingen, erwecken beim Hörer den Eindruck, es seien schmeichel­ige, süßliche Softrock-Songs aus den 70er Jahren, die allesamt von dem schrullige­n Avantgarde­Komponiste­n Harry Partch (1901 – 1974) nachträgli­ch irgendwie erfolgreic­h verbogen und verfrem- Plattenbau

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det und vermurkst worden sind. Musik also für Leute, die sich beim Musikhören nicht zu sehr anstrengen wollen, es aber trotzdem auch gerne mal komplizier­t und vertrackt mögen.

In den Liedern geht es häufig um die wichtigste Sache überhaupt, die den modernen Menschen ausmacht: den Kaufakt und die heitertrau­rige Welt der modernen Einkaufsze­ntren und Shopping Malls. Ich kaufe, also bin ich. Überhaupt wird der Wert eines Menschen davon bestimmt, ob er genug Waren und Geld besitzt. Und auch ins Himmelreic­h wird er nach dem Tod nur einchecken können, wenn er Zeit seines Lebens seine Finanzunte­rlagen stets sauber geordnet gehalten hat: »And when I melt with the holy mind they’ll add / My net worth to the checking account.«

Wem dieser kauzige, gesellscha­ftsanalyti­sche Psychopop nicht gefällt, der muss halt Jazz hören, und zwar am besten diesen hier, spätabends im Sommerwind, bei geöffneten Fenstern: Der englische Saxofonist und Flötenspie­ler Chip Wickham hat ein eklektisch und stark nach Retro klingendes Album vorgelegt, das auch ohne weiteres Anfang der 60er Jahre auf dem Jazzlabel Blue Note hätte erscheinen können. Sofort denkt man beim Zuhören auch an Wickhams großes Vorbild, den Saxophonis­ten Sahib Shihab bzw. insbesonde­re dessen Album »Jazz Sahib« (1957), auf dem, wie hier, nicht zu knapp Einflüsse arabischer und afrikanisc­her Musiktradi­tionen erkennbar waren. Man hört hier auch deutlich, wie klassische Spiritual-Jazz-, Soul- und Funk-Elemente luftig und elegant durch die sechs Stücke gleiten. Sehr liebevoll gemacht ist das.

Jerry Paper: »Like A Baby« (Stones Throw/Roughtrade)

Chip Wickham: »Shamal Wind« (Lovemonk/Groove Attack)

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