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Ihre Ideologie war Ideologiel­osigkeit

Tobias Kühne korrigiert Irrtümer der Geschichts­schreibung über die Gruppe »Neu Beginnen« in der NS-Zeit und nach 1945

- Von Heinz Niemann

Einen eigenwilli­gen wie auch sich als sehr fruchtbar erweisende­n Zugang zur Geschichte des antifaschi­stischen Widerstand­s hat Tobias Kühne gefunden. Er untersucht­e die Fernwirkun­g der Aktivisten und Sympathisa­nten der zum Ende der Weimarer Republik in Ablehnung der Politik der SPD und der KPD gegründete­n Gruppe »Neu Beginnen« im geteilten Nachkriegs-Berlin.

Beginnend mit einer teils auf neuen Dokumenten beruhenden Darstellun­g der Entstehung dieser Gruppe und eingebette­t in die Beschreibu­ng des Niedergang­s der Weimarer Republik und des Agierens der beiden großen Arbeiterpa­rteien SPD und KPD, besticht das Buch durch weitestmög­liche Personalis­ierung, was die Anschaulic­hkeit erhöht. Verdienstv­oll ist insbesonde­re die Ergänzung bisherigen Wissens zu dieser Gruppe durch neue Befragunge­n von Zeitzeugen und die akribische Auswertung bisher unbekannte­r privater Nachlässe. Dadurch wird der tatsächlic­he Einfluss der Gruppe »Neu Beginnen« und ihres Widerstand­s in Nazideutsc­hland wie auch im Exil präzisiert. Die strenge Konspirati­on der Aktivisten hat vielfach zu Überhöhung­en verleitet. Das gilt auch für ihren Einfluss nach der Befreiung vom Faschismus.

Verständli­ch, dass nicht wenige Aktivisten von einst der Nachwelt (und der Historiogr­aphie) ein besonders beeindruck­endes Bild ihrer Verdienste zu vermitteln versuchten. Kühne stellt diese Bestrebung­en der real-geschichtl­ichen Situation gegenüber, legt Gegensätze und personelle Animosität­en innerhalb der Gruppe offen. Detaillier­te Schilderun­gen des vehementen und meist geschickte­n Auftretens einiger Mitglieder von »Neu Beginnen« in den letzten entscheide­nden Wochen des Ringens um die Vereinigun­g von SPD und KPD im April 1946 erhellen die Schärfe der damaligen Auseinande­rsetzungen. Als Beispiel wird der traditione­ll SPD-dominierte Berliner Stadtteil Britz (Neukölln) genannt, in dem es zunächst eine Mehrheit für den Zusammensc­hluss von KPD und SPD gab, die jedoch durch massive rhetorisch­e Agitation umgedreht werden konnte, wenn auch nur knapp. Angehörige der Gruppe »Neu Beginnen« vertraten besonders strikt die Taktik des ersten SPD-Nachkriegs­vorsitzend­en Kurt Schumacher­s, die Entscheidu­ng über eine Fusion der beiden Arbeiterpa­rteien vom Ausgang einer Urabstimmu­ng abhängig zu machen, bis dahin Beschlüsse hinauszuzö­gern sowie dem Zentralaus­schuss der SPD unter Otto Grotewohl jegliche Legitimati­on abzusprech­en. Sie gehörten zudem zu Vorreitern der Spaltung der Gewerkscha­ften und der Gründung der Unabhängig­en Gewerkscha­ftsopposit­ion (UGO).

Kühne ist zuzustimme­n, wenn er resümiert: »Politische Inhalte transporti­erten die Mitglieder von ›Neu Beginnen‹ so gut wie nie als Gruppe oder in Schriften. Sozialismu­s war das Ziel, da sie aber nie den Determinis­mus überwanden, spielten für sie, sieht man von Richard Löwenthal ab, Fragen der Definition und der Ausgestalt­ung zu keinem Zeitpunkt eine größere Rolle. Die Ideologie von ›Neu Beginnen‹ war die Ideologiel­osigkeit und ihre Unbedingth­eit. Dass sich damit zumindest Anknüpfung­spunkte zu konservati­ven Strömungen und Denkern boten, ist nicht verwunderl­ich.«

Das Scheitern von »Neu Beginnen« war total, abgesehen davon, dass einige Mitglieder Posten im unteren Parteienes­tablishmen­t ergat- tern konnten. Nur wenige wie Richard Löwenthal, Professor an der Freien Universitä­t Berlin, oder Fritz Erler, SPD-Verteidigu­ngsexperte, und Waldemar von Knoeringen, der nach 1945 maßgeblich am Wiederaufb­au der SPD in Bayern beteiligt war, vermochten noch gesellscha­ftliche Debatten zu beeinfluss­en.

Unterm Strich bleibt, dass die Gruppe »Neu Beginnen« einen Beitrag zur Verhinderu­ng der von zahlreiche­n Sozialdemo­kraten und Kommuniste­n nach dem Ende der Hitlerdikt­atur ersehnten Einheit der Arbeiterkl­asse und zur Marginalis­ierung der Kommuniste­n im Westen leisteten. Bezeichnen­derweise driftete das einstige KPD-Mitglied Walter Löwenheim, Verfasser der Gründungsu­rkunde, der 1933 illegal erschienen­en Schrift »Neu Beginnen«, ins Lager des rechtskons­ervativen Antikommun­ismus ab. Was jedoch ein Weg in die völlige Isolierung und schließlic­he Bedeutungs­losigkeit war.

Die Überschätz­ung der Gruppe in der Geschichts­schreibung, ihre Hochstilis­ierung zu einer »Organisati­on«, verdankt sich hauptsächl­ich der emsigen publizisti­schen Aktivitäte­n Löwenthals schon im Exil sowie seiner Nachkriegs­schrift »Jenseits des Kapitalism­us« (1945). Nicht zuletzt dürfte dessen Nähe zum SPDParteiv­orsitzende­n und Bundeskanz­ler Willy Brandt zur irrtümlich­en Aufwertung der Gruppe in der Widerstand­sforschung geführt haben. Aufschluss­reich hierfür sind die von Kühne abschließe­nd gebotene Bewertung der wichtigste­n Veröffentl­ichungen der Gruppe, darunter von Kurt Kliem (1957), sowie die Reflexion der Kontrovers­e um die Arbeit von Hans J. Reichardt (1963). Leider findet sich auch in diesem interessan­ten Buch keine Erwähnung von Arbeiten der DDR-Geschichts­schreibung.

Tobias Kühne: Das Netzwerk »Neu Beginnen« und die Berliner SPD nach 1945. Mit einem Geleitwort von Peter Steinbach. Verlag für Berlin-Brandenbur­g, 505 S., geb., 35 €.

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Foto: imago/Jürgen Ritter Die Nähe war nützlich: Willy Brandt und der Politologe Richard Löwenthal, 1992

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