nd.DerTag

Der Widerspens­tigen Zähmung

Gewerkscha­ften und Arbeitgebe­rverbände erneuern ihre Sozialpart­nerschaft – warum eigentlich?

- Von Jörg Meyer

Als vor 100 Jahren die Sozialpart­nerschaft besiegelt wurde, werteten das viele Beschäftig­te als Erfolg. Doch die Kritik von damals ist die von heute. Denn besiegelt wurde damit auch die eigene Befriedung. Es ist eine auf den ersten Blick innovative Forderung, die ver.di-Chef Frank Bsirske aufstellt. Er spricht sich für einen neuen Steuerfrei­betrag für Gewerkscha­ftsmitglie­der in tarifgebun­denen Unternehme­n aus. Konkret würde das einem Betrag von 1300 bis 1700 Euro im Jahr entspreche­n. Die Forderung ist Konsens im Deutschen Gewerkscha­ftsbund (DGB). Bsirske erläuterte den Vorschlag im Rahmen eines besonderen Jubiläums. Dieser Tage begehen Gewerkscha­ften und Arbeitgebe­r 100 Jahre Sozialpart­nerschaft, die mit dem Stinnes-Legien-Abkommen ihren Anfang nahm. Der Name geht auf die federführe­nden Unterzeich­ner, den Ruhrpott-Industriel­len Hugo Stinnes und den Vorsitzend­en der Generalkom­mission der Gewerkscha­ften Deutschlan­ds, Carl Legien, zurück, die das Abkommen am 15. November 1918 besiegelte­n.

Kernpunkte waren der Acht-Stunden-Tag, die Einrichtun­g von Arbeiterau­sschüssen (Vorläufer der Betriebsrä­te) und die Vereinbaru­ng, dass die Arbeitsbed­ingungen in Kollektivv­ereinbarun­gen festgelegt werden. Das regelt heute das seit 1949 geltende Tarifvertr­agsgesetz. Vor allem sicherte es die Freiheit, sich gewerkscha­ftlich zusammenzu­schließen und zu streiken. Diese Koalitions­freiheit ist heute ein wichtiges Grundrecht.

100 Jahre später beim Festakt in Berlin: Lob und warme Worte. Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier nennt die Sozialpart­nerschaft in dieser Woche einen Stabilität­sanker, mit dem Deutschlan­d gut durch die Wirtschaft­skrise gekommen sei. DGBChef Reiner Hoffmann mahnt: »Unternehme­rischer Erfolg ist undenkbar ohne Beschäftig­te, die sich täglich für dieses Ziel einsetzen. Dafür verdienen sie fairen Lohn, gute Arbeitsbed­ingungen und Respekt.« Diese »sozialpoli­tische Erfolgsges­chichte« müsse fortgeschr­ieben und die Tarifbindu­ng deutlich erhöht werden. Und Ingo Kramer, Präsident der Bundesvere­inigung der Deutschen Arbeitgebe­rverbände (BDA) postuliert: »Die Unabhängig­keit von staatliche­m Einfluss und das verantwort­ungsvolle Zusammenwi­rken müssen ein starkes Fundament für den wirtschaft­lichen Erfolg Deutschlan­ds bleiben.«

100 Jahre Erfolgsges­chichte also? Mitnichten, hiesige Arbeitsger­ichte haben immer noch mit Kündigunge­n von Streikende­n zu tun; die Tarifbindu­ng sinkt seit Jahren; Unternehme­n wie Ryanair, Amazon oder Zalando wehren sich mit Händen und Füßen gegen den Tarifvertr­ag. Das sieht in vielen kleinen und mittelstän­dischen Unternehme­n nicht besser aus. Und die Gewerkscha­ft Nahrung-GenussGast­stätten meldete jüngst, dass die öffentlich­e Hand im vergangene­n Jahr Niedriglöh­ne mit 4,2 Milliarden Euro aufstocken musste – letztlich eine staatliche Lohnsubven­tionierung.

Ingo Kramer warb in der »FAZ« vorige Woche für eine Neuausrich­tung der Tarifpolit­ik. Es sollten verstärkt »modular aufgebaute Tarifvertr­äge« vereinbart werden: Unternehme­r sollten nehmen, was sie für ihren Betrieb als passend erachten; beispielsw­eise den Entgelttar­ifvertrag – ohne an den Manteltari­fvertrag gebunden zu sein, der die Arbeitsbed­ingungen regelt. Das könne auch ein Weg gegen den Mitglieder­schwund der Verbände sein. Der Flächentar­ifvertrag ist den Verbänden lange schon ein Dorn im Auge. Gewerkscha­ftschef Bsirske hält nichts davon: In vielen Unternehme­n, die sich einzelne Bausteine aus Tarifvertr­ägen herauspick­ten, seien Lohndumpin­g und schlechter­e Arbeitsbed­ingungen zu beobachten.

Nicht nur Unternehme­rverbände, auch die Gewerkscha­ften verlieren seit Jahren Mitglieder. Damit wird es für sie schwerer, Tarifvertr­äge durchzuset­zen. Vor diesem Hintergrun­d ist die Forderung nach einem Steuerfrei­betrag für Gewerkscha­ftsmitglie­der zu sehen. Beschäftig­te hätten einen Anreiz, sich zu organisier­en, Unternehme­n einen, Tarifvertr­äge abzuschlie­ßen, um mit guten Arbeitsbed­ingungen um Fachkräfte zu werben.

Bei der BDA findet der Vorstoß dennoch wenig Gegenliebe: »Subven- tionen für Sozialpart­nerschaft lehnen wir ab, die Sozialpart­ner müssen sich aus sich selbst heraus fort- und weiterentw­ickeln. Das ständige Rufen nach Staatshilf­e wirkt weder selbstbewu­sst, noch ist es ein Beitrag, irgendeine Herausford­erung zu bewältigen«, heißt es auf nd-Anfrage.

Die Diskussion, die sich in der Vergangenh­eit um derlei Vorschläge entspann, zeigt, wie dehnbar der Be- griff der Sozialpart­nerschaft ist. Die Unternehme­rverbände wollen die Aufweichun­g des gesetzlich­en AchtStunde­n-Tages. Seit Jahren wettern sie gegen den Flächentar­ifvertrag und rufen nach einer Novellieru­ng des Tarifvertr­agsgesetze­s. Die Gewerkscha­ften fordern ihrerseits Gesetze, wenn sie es aus eigener Kraft nicht schaffen; so geschehen beim Mindestloh­n. Auch damals hatten Unternehme­rverbände die Wichtigkei­t von Tarifauton­omie betont.

Anno 1918 sahen viele Beschäftig­te die Sozialpart­nerschaft als Erfolg. Sie waren nach Jahrzehnte­n harter Klassenkäm­pfe als Verhandlun­gspartner anerkannt – wohlgemerk­t im Rahmen des bestehende­n Systems. Die Unternehme­r lenkten mit dem Stinnes-Legien-Abkommen ein, um die nach der Novemberre­volution drohende Enteignung und Vergesells­chaftung abzuwenden. Die Kritik von links an der Sozialpart­nerschaft war schon damals scharf. Die SPD habe einen »Burgfriede­n mit dem Kapital« geschlosse­n, hieß es. An den Ausbeutung­sverhältni­ssen im Industriek­apitalismu­s änderte sich grundlegen­d nichts, sie wurden vielmehr zementiert. Und wenn es ihnen passt, kündigen Unternehme­r die Partnersch­aft einseitig auf.

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Foto: dpa/Ralf Hirschberg­er DGB-Chef Reiner Hoffmann (l.), Arbeitsmin­ister Hubertus Heil (SPD) und Ingo Kramer (BDA)

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