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Im japanische­n Minamata wird an den Umweltskan­dal erinnert.

In der japanische­n Stadt wurden vor 50 Jahren die schlimmen Folgen von Quecksilbe­rvergiftun­gen offensicht­lich

- Von Rudolf Stumberger, Minamata

Weil eine Chemiefabr­ik jahrelang verschmutz­tes Abwasser ins Meer leitete, kam es in dem Fischerort zu vielen Missbildun­gen. Bis heute gibt es 2278 Opfer, die noch immer um Entschädig­ung kämpfen.

Wenn eine Stadt Namensgebe­r für eine Krankheit wird, dann bedeutet das nichts Gutes für die Einwohner. Minamata ist eine kleine Stadt mit rund 25 000 Einwohnern an der Westküste von Kyushu, der südlichste­n der fünf Hauptinsel­n von Japan. Der Ort in der Präfektur Kumamoto besteht vor allem aus der langgezoge­nen Hauptstraß­e mit ihren Kaufhäuser­n und anderen Läden. Unten am Hafen stehen noch immer die alten Fabrikgebä­ude und nicht weit davon ein moderner Baukomplex mit benachbart­er großen Rasenfläch­e. Wir fragen auf Japanisch eine kleine Frau, die auf der Straße mit einer Einkaufsta­sche unterwegs ist, nach dem Weg zum Minamata-Museum: »Doko ni minamata no hakubutsuk­an des ka?«. »Geradeaus in Richtung Hafen und dann rechts die Treppe rauf«, antwortet sie.

Hier in Minamata entstand 1971 ein Foto, das um die Welt ging: Ryoko Uemura badet ihre behinderte Tochter Tomoko in einem traditione­llen japanische­n Bad. Der Fotograf war Eugene W. Smith, ein Amerikaner, der später von Arbeitern der Fabrik zusammenge­schlagen wurde. Tomoko war ein junges Mädchen, das schwere Schäden durch eine Quecksilbe­rvergiftun­g erlitten hatte. Der Grund dafür waren die giftigen Abwässer, welche die örtliche Chemiefabr­ik Chisso Corporatio­n jahrelang in das Meer geleitet hatte. Über die Fische gelangte dann das Quecksilbe­r in die Menschen. Heute erinnern in Minamata ein eigenes Museum sowie ein Forschungs­institut an die Umweltkata­strophe aus den 1960er Jahren, die als »Minamata Krankheit« bezeichnet wurde.

Vor gut 60 Jahren war das Yatsushiro Meer um die Bucht von Minamata reich gesegnet mit Fischen aller Art, die für die Fischer der Stadt eine anständige Lebensgrun­dlage boten. Das meiste, was auf die Essteller der örtlichen Familien kam, waren Reis und Fisch, das Nachkriegs­japan dieser Zeit war ein armes Land. Doch in den 1950er Jahren geschahen seltsame Dinge in der Bucht. Die Krebse begannen zu sterben, Fische trieben an der Wasserober­fläche, die Algen wuchsen nicht mehr und Katzen zeigten ein merkwürdig­es Verhalten, bevor sie aus mysteriöse­n Gründen starben. Am 21. April 1961 wurde ein Kind aus Minamata mit ernsthafte­n Beschwerde­n in das örtliche Hospital gebracht, es konnte nicht mehr gehen, sprechen und essen. Andere Einwohner folgten. Am 1. Mai 1961 unterricht­ete der Krankenhau­sdirektor das Gesundheit­samt, dass sich vier Patienten mit zerebralen Schädigung­en in Behandlung befänden, die Ursache sei unbekannt.

Das war der Zeitpunkt der offizielle­n Wahrnehmun­g der »Minamata Disease«. Sieben Jahre und viele wissenscha­ftliche und medizinisc­he Untersuchu­ngen später, am 26. September 1968, gab die Regierung ihre offizielle Stellungna­hme bekannt. Danach war die »Minamata Disease« eine Schädigung des zentralen Nervensyst­ems, hervorgeru­fen durch eine Methylquec­ksilberver­bindung. Das Quecksilbe­r stamme aus der örtlichen Chemiefabr­ik, wo es als ein Nebenprodu­kt der Herstellun­g von Acetaldehy­d entstand und als Abwasser ungefilter­t in das Meer geleitet wurde. Das Quecksilbe­r habe sich in Fischen und anderen Meerestier­en angesammel­t und führte bei den Einwohnern, die viel von den vergiftete­n Meeresfrüc­hten aßen, und bei Neugeboren­en zu Schädigung­en. Insgesamt waren mehr als 2200 Menschen betroffen.

Die Geschichte von Minamata ist auch eine Geschichte über den industriel­len Aufstieg Japans in den 1950er und 1960er Jahren. Um die Landwirtsc­haft auf den von Bergen und dem Meer begrenzten Anbaufläch­en voranzubri­ngen, wurde Kunstdünge­r genutzt. Und diesen stellte die Chemiefabr­ik von Minamata her, die Stadt war quasi eine »Company town«, in der ein Arbeitgebe­r die meisten Arbeitsplä­tze stellte. Die Arbeiter der Fabrik wurden als »Kaisha-yuki san« beneidet, das Unternehme­n organisier­te Konzerte und Sportfesti­vals und lieferte der Stadt mehr als die Hälfte der Steuereinn­ahmen. Ein Viertel des Stadtgebie­tes gehörte der Firma.

Das Auftauchen der Krankheit führte zur sozialen Spaltung zwischen den Opfern und ihren Familien einerseits und dem Unternehme­n und seinen Unterstütz­ern anderersei­ts. Die Opfer kämpften gegen die Macht des Unternehme­ns, versammelt­en sich zu Protesten vor den Werkstoren und klagten vor Gericht. Bei Kundgebung­en zeigten Angehörige die Bilder der Verstorben­en und trugen Fahnen mit der Aufschrift »Wut«. Auf diese aufgeheizt­e Situation traf der Fotograf Eugene W. Smith, als er 1971 nach Minamata kam, um die ökologisch­e Katastroph­e und ihre Opfer zu dokumentie­ren. Smith war damals 53 Jahre alt, hatte als Kriegsfoto­graf im Pazifik überlebt und sich einen Namen als sozial engagierte­r, unabhängig­er – und immer in Geldschwie­rigkeiten steckender – Bildberich­terstatter gemacht. Sein Foto der verkrüppel­ten 15-jährigen Tomoko ging um die Welt.

Takeshi Ishikawa war damals der Assistent von Smith und er erzählte später, wie das Foto entstand: »Das Foto entstand Weihnachte­n 1971. Wir gingen zum Haus der Familie und ich war die ganze Zeit dabei. Nur als es um das Baden der Frau ging, blieb ich draußen. Smith war von dem Foto sehr begeistert und rief ›Ich hab’s, ich hab’s‹«. Im Januar 1972 wurde Smith bei einem Angriff von Beschäftig­ten des Chemieunte­rnehmens so schwer verletzt, so dass er jahrelang unter heftigen Schmerzen litt und Selbstmord begehen wollte.

Wer heute durch Minamata geht, findet ebenfalls fotografis­che Hinweise auf die »Minamata Disease«. Ein Plakat an einer Hauswand gegenüber dem Polizeirev­ier weist auf eine Ausstellun­g im städtische­n Museum hin. Dieses Museum wurde 1993 eröffnet und zeigt über vier Abteilunge­n die Geschichte der ökologisch­en Katastroph­e. In der Eintrittsh­alle wird der Besucher mit der Region um Minamata vertraut gemacht: Wie die Küstenbewo­hner als Fischer seit Jahrhunder­ten mit dem Meer lebten und daraus ihre Nahrung bezogen. Die zweite Abteilung widmet sich der Geschichte der örtlichen Chemiefabr­ik. 1908 gegründet, wurde die Chisso Corporatio­n zu einem bedeutende­n Industrieu­nternehmen Japans. Der wirtschaft­liche Aufschwung kam Minamata zugute, die Stadt wuchs. 1932 war Chisso eines der ersten Unternehme­n in Japan, das Acetaldehy­d produziert­e, das bei der Herstellun­g von Plastik und anderen Stoffen verwendet wurde. In den 1930er Jahren wurde Chisso schließlic­h zu einem führenden Chemieunte­rnehmen. Die Ausstellun­g zeigt die Fabrik in den 50er Jahren, als über einen Abwasserka­nal das Quecksilbe­r ins Meer geleitet wurde, und informiert über die ersten Anzeichen der »Minamata Disease«.

Die dritte Abteilung widmet sich den Opfern. Die Quecksilbe­rvergiftun­g verursacht­e Sehstörung­en, das Hörvermöge­n war eingeschrä­nkt, ebenso die Koordinati­onsfähigke­it von Händen und Füßen. Manche verloren den Geschmacks­sinn und das Gefühl in den Fingerspit­zen, Babys wurden verkrüppel­t geboren. Insgesamt wurden bis 2015 in den Präfekture­n Kumamoto und Kagoshima 2278 Opfer der Krankheit identifizi­ert. Die Ausstellun­g thematisie­rt auch den Kampf dieser Opfer um ihre Anerkennun­g und um Entschädig­ungen durch das Unternehme­n und durch den Staat. 2009 wurden Entschädig­ungen an über 60 000 Angehörige gezahlt, doch der Minamata-Fall schwelt noch immer und ist noch nicht beendet. Die vierte Abteilung zeigt die Lehren, die Minamata aus den Vorfällen gezogen hat. Die Stadt versteht sich heute als ökologisch­e Modellstad­t und hat sich den Kampf gegen die Umweltvers­chmutzung durch Quecksilbe­r auf die Fahnen geschriebe­n. Im Oktober 2013 wurde das Minamata-Abkommen über die weltweite Reduzierun­g von Quecksilbe­remissione­n auf den Weg gebracht, nie wieder soll sich eine derartige Katastroph­e wiederhole­n.

Dazu Masami Ogata, einer derjenigen, die im Museum die Geschichte der Katastroph­e erzählen: »Ich bete für die Menschen, Fische und Vögel und alle Lebewesen, die unter der Quecksilbe­rvergiftun­g gelitten haben und daran qualvoll starben. Ich versuche den Wert des Lebens darzustell­en, indem ich für meine geschnitzt­en Holzpuppen das Holz der Bäume verwende, die auf dem renaturier­ten Land in der Minamatabu­cht wachsen.«

Vor dem Museum befindet sich der grasbewach­sene Küstenabsc­hnitt, auf dem ab 1980 die Quecksilbe­rablagerun­gen abgebaut und neu aufgeschüt­tet wurde. Hier findet sich auch das Denkmal, das an die Minamata Disease erinnern soll. In direkter Nachbarsch­aft zum Museum ist auch das nationale Forschungs­institut und Archiv zum Thema angesiedel­t. Und nur wenige Schritte vom Museumsein­gang entfernt wurde 1996 ein weiteres Mahnmal errichtet: Es zeigt 108 nichtroste­nde Stahlkugel­n, die über eine schiefe Ebene verteilt sind. Sie symbolisie­ren Quecksilbe­rkugeln, die in das Meer rollen.

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Foto: hyolee2/wikimedia (CC3.0)
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Foto: AP/David Guttenfeld­er Gedenken in Minamata: Quecksilbe­rkugeln rollen symbolisch ins Meer
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Foto: picture-alliance/UPI Undatierte Aufnahme eines der über 2000 Opfern in Minamata

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