Der Ruf nach einem Exit vom Brexit wird lauter
700 000 Menschen nahmen am Marsch des Volksvotums in London teil / Schottland will neu abstimmen
In London hat am Samstag eine Großdemonstration für einen weiteren Volksentscheid über den Brexit stattgefunden. Premierministerin Theresa May will davon nichts wissen. Es war ein beeindruckendes Zeichen: Die größte Demonstration in London nach der gegen den Irak-Krieg im Jahr 2003. 700 000 Teilnehmern folgten dem Aufruf der Veranstalter des »People's Vote March« (Marsch des Volksvotums) am Samstag, so ihre Angabe. Die Polizei übte Stillschweigen.
Die Teilnehmer der Kundgebung forderten, dass die Wähler über ein – bis heute noch nicht vorliegendes – Abkommen über den Austritt aus der EU abstimmen dürfen. Viele äußerten die Hoffnung, den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union so doch noch abwenden zu können.
Die Demonstranten zogen bei schönem Spätsommerwetter vom Londoner Hyde Park in Richtung Parlament. Sie schwenkten EUFahnen und trugen Plakate mit Parolen gegen den Brexit und die konservative Premierministerin Theresa May. An der Spitze des Demonstrationszuges lief inmitten von zahlreichen Jugendlichen der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan von der Labour Party. Er sprach von einem »historischen Augenblick in unserer Demokratie«.
Unter den Marschierern, von denen viele mit Bussen und Zügen aus allen Ecken des Landes, aber auch aus anderen Teilen der EU eintrafen, waren auch etliche Mitglieder der Bürgerinitiative The3Million, die sich für die Rechte von in Großbritannien lebenden EU-Ausländern nach dem Brexit einsetzt. Kundgebungsteilnehmer begründeten die Forderung nach einem zweiten Volksentscheid über den Verbleib Großbritanniens in der EU damit, dass die Bürger beim ersten Brexit-Referendum vor zwei Jahren über die Folgen getäuscht worden seien. »Die Bürger sind in mehrfacher Hinsicht irregeführt worden«, sagte der Demonstrant Peter Hancock.
Die Briten hatten sich in einem Volksentscheid im Juni 2016 knapp für den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union ausgesprochen. Der Austritt soll bis Ende März 2019 vollzogen sein.
Die Verhandlungen zwischen London und Brüssel über die Modalitäten des Brexit brachten bis- lang keine Einigung. Viele Briten treibt inzwischen die Sorge um, dass es angesichts der Differenzen zwischen London und Brüssel zu einem chaotischen Brexit ohne vertragliche Regelungen kommen könnte.
Zuletzt mehrten sich in Großbritannien die Stimmen, die ein neues Referendum fordern. May hatte am Mittwoch bekräftigt, dass es keinen zweiten Volksentscheid geben werde. Die Menschen hätten abgestimmt, und der Brexit werde umgesetzt.
Die schottische Premierministerin Nicola Sturgeon erklärte dagegen in einer Video-Botschaft ihre Unterstützung für die Forderung nach einem zweiten Referendum. Die Politikerin erinnerte daran, dass die 35 Abgeordneten ihrer Schottischen Nationalpartei (SNP) im britischen Unterhaus ebenfalls dafür stimmen würden, falls ihnen die Frage gestellt werden sollte. mit
»Die Bürger sind in mehrfacher Hinsicht irregeführt worden.« Peter Hancock, Demonstrant
»It's not over – Es ist noch nicht vorbei.« Das gilt für den Brexit auf alle Fälle. Eine Massendemonstration von 700 000 Menschen wie am Wochenende in London ist an sich noch kein Argument dafür, ein zweites Referendum in Großbritannien über die Frage abzuhalten, ob die Bevölkerung mehrheitlich für einen Austritt aus der Europäischen Union (EU) ist, oder nicht mehr. Denn der Fakt bleibt: Am 23. Juni 2016 stimmten viele Millionen Briten für einen EU-Austritt, auch wenn die 52 Prozent ein knappes Ergebnis darstellten. Auch das Argument, das weder Befürworter noch Gegner 2016 eine konkrete Vorstellung davon hatten, was ein Austritt aus der EU bedeuten würde, zieht nicht wirklich. Die haben sie auch heute noch nicht angesichts der Verhandlungssackgasse. Über einen eventuellen Vertrag dann noch mal abzustimmen, wäre indes eine Option.
Wer allerdings ein starkes Argument für ein neues Referendum auf seiner Seite hat, sind die Schotten. Als sie 2014 über die Unabhängigkeit von Großbritannien abstimmten, war keine Rede von einem etwaigen Brexit. Für die bekannt EU-zugeneigten Schotten würde sich die Grundlage für ein Unabhängigkeitsreferendum durch einen Brexit massiv verändern. Vielleicht hilft der Druck aus Schottland London durch die Hintertür aus der Sackgasse – über ein zweites Referendum. Besser wär's.